Nach der kläglichen Leistung des Präsidenten in der TV-Debatte diskutieren führende Demokraten, ob er tatsächlich als Kandidat nominiert werden soll. Doch wie liesse sich eine neue Kandidatur aufstellen?

Die Realität von Joe Bidens hohem Alter holt die Demokraten ein. Nach seinem schwachen Auftritt an der TV-Debatte am Donnerstagabend in Atlanta verlangen besorgte Demokraten in den amerikanischen Medien, dass Joe Biden auf seine Nominierung verzichtet und Platz für eine frische Kandidatur macht.

Die ehemalige Senatorin Claire McCaskill sagte auf dem linksliberalen Sender MSNBC, die engsten Berater des Präsidenten wie Ron Klain und Mike Donilon müssten nun ein ernstes Gespräch mit Joe Biden führen. Es stünden valable Kandidaten wie Vizepräsidentin Kamala Harris und Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom bereit, um in die Bresche zu springen.

Das freiwillige Ausscheiden des Präsidenten wäre die Voraussetzung für eine Ersatzkandidatur. Denn Joe Biden ging als klarer Sieger aus den demokratischen Vorwahlen hervor. Er gewann in allen 50 Teilstaaten und den Territorien mit überragender Mehrheit, unter anderem weil es keine ernsthafte Gegenkandidatur gab. 3894 Delegierte wurden ihm zugeteilt, das sind 99 Prozent aller gewählten Delegierten.

Laut den Regeln der Demokratischen Partei müssen die Delegierten für die Nominierung von Joe Biden stimmen – ausser er würde sich aus dem Rennen zurückziehen oder aus andern Gründen ausfallen. «Die Delegierten müssen nach bestem Wissen und Gewissen die Meinung derjenigen widerspiegeln, die sie gewählt haben», heisst es. Bloss 739 sogenannte Superdelegierte, unter ihnen Amtsträger und hohe Parteifunktionäre, können ihre Stimmen frei vergeben. Die Demokratische Partei plant, Präsident Biden schon im Vorfeld des Parteitags am 19. August in Chicago zu nominieren.

Das Chaos am Parteitag 1968

Die Delegiertenstimmen sind seit 1972 an einen Kandidaten gebunden. Die Regel wurde eingeführt, nachdem 1968 der Parteitag der Demokraten in Chicago im Chaos versunken war. Der Anlass stand im Schatten des Vietnamkriegs. Es ging darum, den Nachfolger von Präsident Lyndon B. Johnson zu bestimmen. Doch stattdessen gab es Tumult und Tränengas. Abtrünnige Delegierte lehnten sich gegen die Kriegspolitik des demokratischen Establishments und gegen den offiziellen Kandidaten Hubert Humphrey auf. Friedensaktivisten lieferten sich Strassenschlachten mit der Polizei.

Von der Zerrissenheit der Demokraten profitierte der Republikaner Richard Nixon, der die Präsidentschaftswahl schliesslich gegen Humphrey gewann.

Um ein derartiges Chaos in Zukunft zu vermeiden, führten die Demokraten im darauffolgenden Wahljahr die Regel ein, dass die Delegierten nach den Vorwahlen und dem Caucus den siegreichen Kandidaten zugeteilt und «eingeschworen» werden. Abtrünnige Delegierte gibt es nicht mehr, und die offizielle Nominierung am früher unberechenbaren Parteitag ist zum blossen Zeremoniell geworden – und zum Startschuss für die heisse Phase im Wahlkampf.

Die Kandidaten werden also direktdemokratisch durch die Parteibasis in den Teilstaaten gewählt, wobei amtierende Präsidenten einen überragenden Bisherigenbonus geniessen.

Varianten des Ausscheidens von Biden

Wegen des hohen Alters von Joe Biden spielten einige Politbeobachter bereits vor Monaten durch, was geschähe, wenn seine Kandidatur zusammenbrechen würde. Der Kolumnist und Podcaster der «New York Times», Ezra Klein, verlangte während der Vorwahlen Mitte Februar, dass Joe Biden sich aus dem Rennen zurückzieht, und erlebte darauf einen massiven Sturm der Kritik durch das demokratische Establishment. In einem Podcast diskutierte Klein die Variante eines Rückzugs von Biden kurz vor der offiziellen Nominierung mit der Politologin Elaine Kamarck von der Denkfabrik Brookings.

Es entstünde eine ähnliche Situation wie «in den guten alten Tagen», sagt Kamarck. Diverse Kandidatinnen und Kandidaten würden ihren Hut in den Ring werfen und um die rund 4000 von Joe Biden befreiten Delegiertenstimmen buhlen. Der Parteitag findet zufällig wie 1968 wieder in Chicago statt. Im Fall von Bidens Rückzug erwartet die Expertin am Parteitag Hinterzimmerdeals und in den sozialen Netzwerken wilde Kampagnen.

Es seien in diesem Fall wohl mehrere Wahlgänge nötig, ohne dass klar werde, wer auf die Wahllisten auf- oder abspringe. Sicher sei, es würde «wild werden», so Kamarck. Aber am Schluss wäre mit Sicherheit ein Kandidat oder eine Kandidatin nominiert. «Es gibt Regeln und einen Prozess, um dahin zu kommen.»

Im Moment sind das alles noch Planspiele, denn Präsident Joe Biden hat keinerlei Signale gegeben, dass er sich von seiner Kandidatur zurückzieht. Im Gegenteil, er feierte nach der Fernsehdebatte mit der First Lady Jill Biden in Atlanta. Seine Kampagnenleiterin bestätigte, dass Joe Biden im Rennen bleibe.

Dennoch kursieren in den amerikanischen Medien bereits Namen möglicher Kandidaten. Nach der TV-Debatte in Atlanta stürzt die Wettquote von Joe Biden ab, und die Kurve des kalifornischen Gouverneurs Gavin Newsom zeigt steil nach oben. Im Gespräch ist auch die Möglichkeit, dass Joe Biden seine Delegierten an die Vizepräsidentin Kamala Harris vermacht.

Wer weiss, wie sich das alles auf die Wahlen im November auswirken würde? Eine Frage für die ganz grosse Kristallkugel.

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