Sonntag, September 29

Kaum irgendwo ist die Zahl der Schuldner so hoch wie in der reichen Schweiz. Die Anwältin Rausan Noori befreite schon Hunderte Klienten aus der Schuldenspirale, indem sie Kreditbanken für illegale Praktiken vor Gericht zog. Gelingt ihr der entscheidende Schlag, der eine ganze Industrie zu Fall bringen könnte?

«Eigenverantwortung»: Der Begriff wird in der Verfassung nirgends explizit erwähnt, und trotzdem ist er so schweizerisch wie die Mehrsprachigkeit, die Neutralität oder die direkte Demokratie. Die Eigenverantwortung wohnt im Oberstübchen dieses Landes wie eine strenge Grossmutter im Stöckli eines Bauernhauses.

Weit oben, vielleicht gar auf Platz eins in der Rangliste der Eigenverantwortlichkeiten steht die Kontrolle über die Finanzen. Von mündigen Personen wird erwartet, dass sie ihr Budget im Griff haben, dass sie zum Beispiel jeden Monat einen Teil des Lohns abzweigen und auf die Seite legen, um die Rechnungen zu bezahlen. Deshalb gilt eine Überschuldung als eine Misere, die man sich selbst eingebrockt hat.

Eigenverantwortung gilt als das Betriebssystem der Schweizer Gesellschaft, als Bedingung für die Freiheit, unser Geld auszugeben, wofür immer wir wollen. Und auch, Schulden zu machen, wann und bei wem wir wollen. Doch was, wenn dieses Prinzip versagt?

Der perfekte Fall

Rausan Noori hat sich viele Gedanken gemacht über Eigenverantwortung. Die Rechtsanwältin kennt das System aus verschiedenen Perspektiven. Bevor sie sich selbständig machte, arbeitete sie bei einer Grossbank und bei der Finanzmarktaufsicht.

Noori ist 41 Jahre alt und clever. Wenn sie Zuhörern, die weniger klug sind als sie (und von diesen gibt es einige), komplizierte Dinge erklärt, dann stupst sie mit einem Finger wiederholt die Brille hoch. Und wenn juristisches Geschwurbel und sperrige Fakten so verknotet daliegen, dass andere den Knäuel entnervt beiseiteschieben würden, dann setzt Noori neu an, um alles zu ordnen – in klarem, eloquentem Deutsch, wobei das nicht einmal ihre Muttersprache ist. Noori ist jenseits des Röstigrabens aufgewachsen, wo sie in der Schule Französisch und zu Hause Rumänisch sprach.

Es ist ein Morgen Anfang Mai 2023, der sich schon fast nach Sommer anfühlt. Noori betritt in Bremgarten das Gerichtsgebäude, um vor Gericht mit der Bank Now um diesen einen Fall zu streiten – den für sie perfekten Fall. Noori wird ihn gewinnen, da ist sie sich sicher. Es hängt viel von diesem Fall ab. Nicht nur die Frage, ob Nooris Klient auf einen Schlag seine Schulden bei der Kreditbank los wäre. Sondern möglicherweise auch das Schicksal eines ganzen Wirtschaftszweiges – der Schweizer Kreditbranche. Noori will aufzeigen, wie die Bank Now – wie auch andere Kreditinstitute – mit illegalen Mitteln die Verschuldung ihrer Kundschaft fördert und diese damit in die Schuldenfalle treibt.

Seit zehn Jahren geht die Juristin den Kreditbanken auf die Nerven, die das Gesetz brechen, um zu hohen Zinsen Darlehen an Kundinnen und Kunden in prekären finanziellen Verhältnissen zu vergeben. Nooris Klientel besteht aus Privatleuten, die tief in Schulden stecken. Der Gang zur Kreditbank war meist der letzte und fatale Beschluss in einer Kette von vielen folgenreichen Entscheidungen.

Reiche, verschuldete Schweizer

Das Konsumkreditgesetz ist in Juristenkreisen ein Orchideenthema – selten weiss jemand wirklich Bescheid. Dass Noori sich ausgerechnet auf dieses Geschäftsfeld der Banken spezialisiert hat, macht sie zur raren Kapazität. Nur wenige Anwältinnen knien sich so tief in die finanzielle Misere von Menschen, die manchmal über Jahrzehnte und mit Hunderttausenden von Franken bei den Kreditbanken in der Kreide stehen.

Jede dieser Miseren begann mit einem kleinen Betrag. Schuldenmachen ist gesellschaftlich normal oder gar erwünscht. Fast alle Erwachsenen in der Schweiz besitzen eine Kreditkarte, immer mehr nutzen Buy-now-pay-later-Modelle, und vermutlich haben die meisten auch schon einmal ihr Bankkonto überzogen. Die Probleme beginnen meist später: Mit den Mahnungen. Mit dem gesperrten Konto. Oder mit einer Freundin, die einst mit einem Darlehen ausgeholfen hat und das Geld nun zurückwill.

42,9 Prozent der Schweizer Einwohner sind entweder selbst von Verschuldung betroffen oder leben in einem Haushalt, in dem eine Person verschuldet ist. Darunter fallen unterschiedliche Formen wie Zahlungsrückstände, Fahrzeug-Leasing oder Verschuldung bei Familie oder Freunden. Hypothekarschulden für Haus oder Eigentumswohnung hingegen sind in der Statistik nicht eingerechnet.

Von «Überschuldung» sprechen Schuldnerberatungsstellen dann, wenn ein Privathaushalt über längere Zeit nicht mehr in der Lage ist, die monatlichen Rechnungen zu bezahlen. Statistiker ringen allerdings um eine exakte Definition.

Überschuldet – ohne eine einzige Betreibung

Das Bundesamt für Statistik (BfS) schreibt, dass 2020 fast jede sechste Person in einem Haushalt mit einem Zahlungsrückstand gelebt habe. Um diesen Anteil zu bestimmen, hat das Statistikamt Studienteilnehmer gefragt, ob gegen sie in den vergangenen zwölf Monaten eine Betreibung eingereicht worden sei. Ökonomen kritisieren diese Definition. Denn überschuldet kann man auch sein, ohne je betrieben zu werden.

Eine Migros-Kassiererin kann fünf Tage in der Woche arbeiten, auf einer Million Schulden sitzen und mit den Gläubigern abgemacht haben, dass sie jeden Monat 1000 Franken zurückbezahlt – dafür wird ihr Lohn gepfändet. Es ist auch möglich, dass ein Sozialhilfeempfänger einen Abzahlungsvertrag mit einer kleinen monatlichen Ratenzahlung abgeschlossen hat und über Jahrzehnte am Existenzminimum lebt: Er wird nie als überschuldet in einer Statistik auftauchen.

Eine bessere Einordnung würden allenfalls Verlustscheine ermöglichen. Sie werden ausgestellt, wenn jemand die Betreibung nicht bezahlen kann, und verjähren in der Schweiz äusserst selten. Doch auch diese Zahl wird nicht erfasst.

Wie stark Konsumkredite zur Überschuldung beitragen, ist umstritten. Der Interessenverband der Branche gab vor Jahren in einer Stellungnahme an, die allerwenigsten der ausstehenden Rückzahlungsraten müssten per Betreibung eingefordert werden. Insgesamt seien nur etwa ein bis zwei Prozent aller Kreditverträge von Zahlungsausfällen betroffen.

Einen Kredit aufnehmen, um Steuern zu bezahlen

Ein anderes Bild zeichnen die Schweizer Schuldnerberatungsstellen. Die Beraterinnen beschäftigen sich dort tagtäglich mit Fällen von Klienten, die sich mit Konsumkrediten verschuldet haben. Der Verband für Schuldenberatungsstellen schreibt in einer Stellungnahme, solche Kredite, manchmal werden sie Kleinkredite oder Barkredite genannt, würden «häufig am Anfang von Überschuldungssituationen aufgenommen».

Anders als der Name suggeriert, werden Konsumkredite oft nicht in erster Linie für Möbel und Ferienreisen genutzt, sondern zur Begleichung bereits bestehender Schulden – vornehmlich bei Steuerämtern und Vermietern. Doch die vermeintlich kleinen Kreditsummen vergrössern die Probleme von verschuldeten Haushalten, auch wegen der hohen Zinsen von bis zu zwölf Prozent: Statt aus der finanziellen Klemme können Konsumkredite geradewegs in die Schuldenfalle führen.

Um diese Negativspirale zu verhindern, wurde 2003 im Konsumkreditgesetz festgehalten, die Banken seien verantwortlich dafür, dass die von ihnen gewährten Darlehen die Verschuldung der Konsumenten nicht verschlimmerten. Neu sollte ein Kredit nur noch erhalten, wer in der Lage war, die Rückzahlung inklusive Zinsen zu leisten.

Dass es mit der Umsetzung hapert, davon zeugen Rausan Nooris Akten in ihrem Büro im Zürcher Kreis 4. Mit dem über die Jahre angesammelten Papier könnte man jeden Quadratmeter auf dem Zürcher Paradeplatz bedecken. Familienväter, Kindergärtnerinnen und SBB-Angestellte: Ganz normale Bürgerinnen und Bürger in unterschiedlichen Lebenssituationen gehören zu Nooris Mandanten. Sie alle konnten ihre Konsumkredite nicht mehr abzahlen.

Fehler in fast jedem Vertrag

Noori ist wortklauberisch und penibel, wie es nur Juristinnen sein können. Ihre Beharrlichkeit ist bei den zwei grössten Kreditinstituten Bank Now und Cembra Money Bank gefürchtet. Die Anwältin sagt, sie finde Fehler in so gut wie jedem Kreditvertrag, der auf ihrem Tisch lande. Solche Fehler haben Folgen für die Banken. Je nach der Schwere ihrer Versäumnisse müssen sie auf ihre Forderungen verzichten. Kann Noori «geringfügige» Verstösse bei der Kreditprüfung nachweisen, verliert die Bank die Zinserträge. Im Fall von «schwerwiegenden» Verstössen verliert die Bank die gesamte Kreditsumme.

Vergleicht man die Schweiz mit der EU, leben hierzulande überdurchschnittlich viele Privatschuldner. Das zeigen Daten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Ökonomen sagen, das sei teilweise erklärbar durch das Hypothekengeschäft, das über die Jahre stark gewachsen sei. Aber eben nur teilweise.

Es gibt kaum einen Ort, wo Menschen mehr Privatvermögen besitzen als in der Schweiz. Wenige Länder weisen eine so tiefe Arbeitslosenquote und so wenig Armut auf. Vielleicht ist die Schweiz ganz einfach so reich, dass sie sich die Überschuldung leisten kann?

Christoph Mattes ist Betriebsökonom und Sozialarbeiter, er hat seine Doktorarbeit über die Konsumentenverschuldung verfasst. Vor seinem Studium arbeitete er auf der Bank, seine Affinität zu Zahlen und Budgets stand schon damals fest. Als Deutscher, der vor etlichen Jahren in die Schweiz gezogen ist, leitet er Sätze gerne ein mit «wenn Sie mir den Blick über die Landesgrenzen gestatten». Seine Vergleiche sind hilfreich, um zu verstehen, warum das Land des Wohlstandes eine so hohe Privatschuldnerquote hat.

Schuldenfreundliche Schweiz

«Die Schweiz hat ein schuldenfreundliches System», sagt Mattes. Das sei so, weil das Land von seinen Einwohnern viel Eigenverantwortung verlange. Überschuldung sei wahrscheinlicher, weil von Arbeitnehmenden erwartet werde, dass sie jeden Monat einen Betrag zurücklegten für die Krankenkasse und um am Ende des Jahres die Steuern zu bezahlen. In anderen Ländern werden diese Beträge direkt vom Lohn abgezogen.

Mattes sagt, das Schweizer System sei weder besser noch schlechter als andere Systeme. Doch er hält es für ineffizient, weil so viele Ressourcen für das Inkasso verbraucht werden. Die Zahlungsunfähigkeit von Amtes wegen tritt in der Schweiz schneller ein. Bis in Deutschland ein Schuldner für zahlungsunfähig erklärt wird, muss ein langes rechtliches Verfahren durchlaufen werden. Der Schuldner hat verschiedene Einsprachemöglichkeiten. Der gefürchtete Gerichtsvollzieher trete oft erst nach Jahren in Aktion, sagt Mattes. «Verglichen mit der Macht, mit der eine Schweizer Betreibungsbeamtin ausgestattet ist, kommt mir der deutsche Gerichtsvollzieher wie eine lahme Ente vor.»

In der Schweiz führe bereits der Zahlungsverzug, also das Überschreiten einer Zahlungsfrist, zu einer Betreibung. Können Schuldnerinnen dann nicht bezahlen, führt dies zu Verlustscheinen, die teilweise über Jahrzehnte bestehen, da sie höchst selten verjähren. Mit anderen Worten: Wer in der Schweiz einmal in die Schuldenspirale geraten ist, kommt nur mit viel Mühe wieder heraus.

Genau diese Situation hat Rausan Noori in ihrer Arbeit Hunderte Male gesehen. Aber die Klienten, die wegen Konsumkrediten in die Schuldenfalle geraten sind, haben dank ihr gute Chancen auf einen Neuanfang. Für Hunderte von Menschen verhandelte sie mit Kreditbanken Schuldenerlasse. Und dabei deckte sie illegale Geschäftspraktiken auf, die sie in eigenen Statistiken dokumentiert und den Medien zugänglich macht.

Geschäftsmodell auf der Kippe?

Ihrem Blick entgeht keine noch so kleine Schlamperei in Kreditverträgen. Die Banken freut das nicht. Noori hat manche dazu gebracht, auf Forderungen in Millionenhöhe zu verzichten, indem sie ihnen Fall für Fall Fehler bei der Kreditfähigkeitsprüfung nachgewiesen hat. Was Noori für ihre Klienten aushandelt, könnte man «Gratiskredite» nennen. Meistens bringt sie die Banken in aussergerichtlichen Verhandlungen zu einem Forderungsverzicht, manchmal zieht sie vor Gericht, um eine Entschuldung zu erreichen.

Aber wie ist das möglich? Warum vergeben Kreditbanken Darlehen an Privatpersonen, die sich einen Kredit eigentlich gar nicht leisten können?

An diesem Morgen im Mai 2023 steht genau diese Frage im Gericht in Bremgarten im Raum. Noori hat einen Fall übernommen, der nicht nur sehr eindeutig ist, sondern auch endlich ein Urteil erzwingen soll, das Folgen für die Rechtsprechung im ganzen Land hat. Nooris Vorwurf lautet: Müssten sich die Kreditinstitute an das geltende Recht halten, würden ihre Gewinne in sich zusammenfallen. Das Urteil wäre so folgenreich, dass damit das Geschäftsmodell einer ganzen Branche infrage gestellt wäre.

An diesem Tag braucht sie nur eine dünne Mappe mit Akten. Neben ihr sitzt ihr Mandant. Wir nennen ihn in diesem Text Daniel Müller, um seine Identität zu schützen. Müller geht auf die vierzig zu, ein ruhiger Mann, der in sich gekehrt wirkt.

Vor über zehn Jahren sah sich der Handwerker finanziell in der Klemme – er hatte ein paar Mal die Wohnung gewechselt, die Mietzinse waren stets etwas höher geworden, die Ausgaben für neue Möbel auch. Dann war er mit seiner Freundin zusammengezogen, die kurz darauf wieder verschwand und ihn auf der hohen Miete sitzenliess.

Schliesslich hatte er sich neu verliebt, hatte geheiratet, war Vater geworden – seine Frau schaute zu Hause zu den Kindern. Die alten Schulden waren noch nicht abgetragen, und neue kamen hinzu – von all dem wusste die Frau nichts.

Wer trägt die Verantwortung?

Im Jahr 2013 beantragte Daniel Müller seinen ersten Kredit bei der Bank Now in der Hoffnung, so seine Schulden zu begleichen. Ein Jahr später war der Schuldenberg gewachsen, und er bat die Bank nochmals um Hilfe. Die Credit-Suisse-Tochter gab ihm zu seinem eigenen Erstaunen nochmals ein Darlehen. Müller, inzwischen Vater von drei Kindern, ist bis heute nicht in der Lage, das Darlehen von insgesamt 55 000 Franken plus Zinsen abzuzahlen. Die Bank Now betreibt ihn für 80 000 Franken.

Müllers Fall passte zu anderen Fällen, die Noori vor Gericht oder in Vergleichsverhandlungen gegen die zwei grössten Kreditbanken Bank Now und Cembra Money Bank vertreten hat: fehlerhaft oder unvollständig ausgefüllte Kreditverträge, überlange Laufzeiten, Aufstockungen ohne neuerliche Überprüfung der Kreditfähigkeit.

Diesmal führt Noori in ihrem Plädoyer aus, die Bank habe Müllers Notlage ausgenützt – sie hätte ihm niemals Geld leihen dürfen, habe es aber trotzdem getan, im Wissen um seine prekären Finanzen. Die Bank habe sich über die gesetzlichen Bestimmungen des Konsumkreditgesetzes hinweggesetzt, um Müller das Darlehen zu gewähren.

Der Anwalt der Bank Now argumentiert anders: Der Kunde habe den Vertrag unterzeichnet, obwohl er gewusst habe, dass die Angaben nicht gestimmt hätten. Auch der Kreditnehmer habe die Pflicht, die Angaben zu seinem Budget zu prüfen. Das stehe so im Gesetz, sagt der Anwalt. Mit anderen Worten: Es liege in der Eigenverantwortung des Schuldners, dass die Informationen zur Berechnung des Abzahlungsvertrages korrekt seien. Eine Darstellung, die so nicht stimme, erwidert Noori in ihrem Plädoyer: Das Gesetz halte klar fest, dass die Kreditfähigkeitsprüfung in der Verantwortung der Bank liege.

Überschuldete entscheiden oft falsch

«War Ihr Budget korrekt?», will die Gerichtspräsidentin von Nooris Klienten wissen. Daniel Müller sagt: «Ich habe, ehrlich gesagt, nicht geschaut, nur schnell. Ich ging davon aus, dass es richtig war.» Die Miete habe ungefähr dem entsprochen, was er damals bezahlt habe – 1000 Franken. Ob der Jahreslohn mit oder ohne Auszahlung der Überstunden gewesen sei, mit oder ohne 13. Monatsgehalt? Er sei einfach froh gewesen, das Darlehen bewilligt zu bekommen.

«Den rationalen Konsumenten kann man fordern, die Frage ist nur, ob er gewollt ist», sagt Mattes. Menschen, denen das Wasser bis zum Hals stehe, fällten nicht die richtigen Entscheidungen, das sei wissenschaftlich belegt. Unter finanziellem Druck sind die kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt, «zudem investieren überschuldete Personen oft in die falschen Dinge, ihren Entscheidungen fehlt die langfristige Perspektive».

Allerdings, sagt Mattes, stamme die Kundschaft von Privatbanken nicht aus den untersten Einkommensschichten – das hat seine eigene Forschung gezeigt. Mattes unterscheidet zwischen Armutsschuldner und Einkommensschuldner. Nur die zweite Gruppe sei interessant für das Konsumkreditgeschäft und werde von der Branche aggressiv umworben. Etwa mit Telefonanrufen von Kundenberaterinnen, die freundlich nachfragen, ob man den Kredit aufstocken wolle.

Schuldner mit Potenzial

Exemplarisch dafür sei, sagt Mattes, dass viele Banken im Privatkundengeschäft nicht mehr von «Risikoanalyse» sprächen, sondern von «Potenzialbewertung». Im schlimmsten Fall müssten die Kreditbanken ihr Geld per Zahlungsbefehl einfordern. Dieses Risiko sei für sie vertretbar. Denn die hohen Zinsen auf dem Darlehen sicherten den Gewinn auch auf längere Frist. Abgesehen davon liehen sich die Kreditinstitute das Geld selbst aus – auf dem Finanzmarkt und so zu einem Bruchteil der Zinsen, die sie dem Kunden für den Konsumkredit verrechneten.

Banken bestreiten Vorwürfe

Die beiden grössten Schweizer Kreditbanken lehnen jede Verantwortung für die Überschuldung ihrer Kundschaft ab. Ebenso bestreiten sie, gegen geltende Gesetze zu verstossen. Konfrontiert mit einem Fragenkatalog in Bezug auf die Bank Now, die in den letzten Monaten mehrere Mitarbeiterinnen wegen Budgetmanipulationen fristlos entlassen hat, schreibt die Medienstelle der Credit Suisse: «Bank-now toleriert keine Verhaltensweisen von Mitarbeitenden, die gegen Gesetze, Regeln oder Weisungen verstossen. Alles Weitere kommentieren wir nicht.»

Noch deutlicher drückt sich Cembra aus. Es sei schlicht «falsch», von Gesetzesverstössen zu sprechen. Und weiter: «Cembra ist eine regulierte und an der SIX kotierte Schweizer Bank mit langjähriger Erfahrung im Angebot von Finanzierungsprodukten. Cembra setzt sich für eine verantwortungsvolle Kreditvergabe ein und hält sich an die strengen gesetzlichen Vorgaben.» Allgemein setze sich die Bank dafür ein, die «Überschuldung von Individuen» zu vermindern.

In den Schuldnerberatungen fällt in erster Linie die Geschäftspraxis der Bank Now negativ auf. Und auch die Anwältin Rausan Noori hat stets mehr Fälle von Bank-Now-Kunden.

Sie wurde vor Jahren auf das Thema aufmerksam, als sie bei der Caritas Schuldnerinnen juristisch beriet. «Praktisch jeder Kreditvertrag, der auf meinem Tisch landete, war falsch ausgefüllt», erinnert sie sich. Irgendwann begann sie, die Unterlagen zu sammeln und systematisch zu analysieren. Sie stellte fest, dass von 200 Kreditverträgen, die zwischen 2012 und 2016 in der Schuldenberatung gelandet waren, 194 falsche Angaben zum Budget der Antragsteller enthielten.

Bankenaufsicht bleibt untätig

«Die Banken lassen einfach systematisch Ausgaben weg, damit es so aussieht, als wäre mehr Geld vorhanden», sagt Noori. Zum Beispiel wurden Berufskosten wie auswärtige Verpflegung weggelassen oder die Steuern und die Krankenkasse zu tief angegeben. Liegt das Budget künstlich tiefer, können die Banken höhere Kredite gewähren. Mit ihrer Arbeitgeberin, der Caritas Schweiz, meldete Noori der Finanzmarktaufsicht (Finma) ihre Beobachtungen – mitsamt Belegen. Die Behörde hätte die Möglichkeit gehabt, die Kreditbanken unter Androhung von hohen Geldstrafen zu verwarnen. Doch die Finma erkannte keine Systematik und griff nicht ein.

Noori liess sich davon nicht abschrecken. Nach ihrer Kündigung bei der Caritas machte sie sich vor vier Jahren selbständig. Seither befasst sie sich fast ausschliesslich mit der Geschäftspraxis der beiden grössten Kreditinstitute Bank Now und Cembra Money Bank.

Was sie lange anstrebte, war das eine Gerichtsurteil, das die Kreditbanken verpflichtet, bei schwerwiegenden Verstössen gegen das Konsumkreditgesetz auf alle Forderungen zu verzichten. Rechtsprechung gibt es in diesem Bereich nur ganz wenig.

Am deutlichsten gerügt wurde eine Kreditbank vom Bundesgericht, das im möglichen Fall von organisierter Kriminalität gegen den Schweizer Ableger der Organisation Tamil Tigers entscheiden musste. Damals hatten Mitglieder der Tamil Tigers für Landsleute Kredite bei der Credit-Suisse-Tochter Bank Now aufgenommen, um das Geld für die Finanzierung des bewaffneten Kampfes nach Sri Lanka zu überweisen.

Die Verteidigung der angeklagten Männer sammelte Belege dafür, dass die Bank Now ihrer Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen sei. Etwa, indem sie offensichtlich gefälschte Lohnausweise akzeptierte. Das Bundesgericht rügte dieses Vorgehen der Bank mit deutlichen Worten – die Finanzmarktaufsicht, bei der die Anwälte Anzeige erstatteten, sah aber auch hier keinen Anlass, einzugreifen.

Die Kreditbanken Cembra und Bank Now bestreiten, die Rechtsprechung zu blockieren. Doch dass sie wenig Interesse an der gerichtlichen Klärung dieser Situation haben, liegt auf der Hand. Würden die Gerichte sie dazu zwingen, geradezustehen für Gesetzesverstösse, wäre die Folge nicht nur der Verlust von riesigen, bereits ausbezahlten Kreditsummen. Es könnte auch das Ende für ein lukratives Geschäftsmodell bedeuten.

Fristlose Entlassungen bei der Bank Now

Als Daniel Müller bei Rausan Noori auftauchte und ihr seine Geschichte erzählte, ahnte sie bereits, dass damit der perfekte Fall gefunden sein könnte, um das richtungsweisende Urteil zu erlangen. Als sie Müllers Kreditverträge analysierte, wusste sie: Sie kann gewinnen.

Die Bank, sagt Noori, habe bereits beim Abschluss des Kreditvertrages gewusst, dass Müller nicht in der Lage sein würde, das Darlehen plus Zins abzubezahlen. Mehr noch: Die Bank Now habe Müllers Budget für den Vertrag falsch ausgefüllt, so dass er bei der Prüfung als kreditfähig durchgegangen sei. Ein Jahr später habe Müller abermals einen Kredit erhalten – diesmal ohne jegliche Prüfung seiner finanziellen Situation.

Schuldenberatungsstellen weisen seit Jahren darauf hin, dass sich die Banken nicht an die Vorgaben des Konsumkreditgesetzes hielten. Kürzlich hat eine interne Untersuchung der Credit Suisse ergeben: Ein Grossteil der Kreditanträge ihrer Unternehmenstochter Bank Now enthält falsche Budgetzahlen. Die NZZ hat im März über mehrere fristlose Entlassungen bei dem Kreditinstitut berichtet. Vorübergehend musste die Bank Now sogar wegen Personalmangels Filialen schliessen.

Ehemalige Mitarbeiter erzählten der NZZ, wie sie auf Anweisung ihrer Vorgesetzten Kreditanträge so ausgefüllt hätten, dass der Antragsteller gerade noch als kreditfähig durchgegangen sei. Oft seien die Ungereimtheiten so offensichtlich gewesen, dass es im Hauptsitz, wo schliesslich die Kreditfähigkeit abgeklärt worden sei, hätte auffallen müssen.

Aber welche Anreize haben Mitarbeiter von Kreditinstituten, Budgetzahlen zu frisieren?

Betreibungen bezahlt für den Kunden

Stefan Graf, der eigentlich anders heisst, kennt beide Seiten: Er hat für ein paar Jahre für ein Kreditinstitut gearbeitet und ist selbst in die Schuldenfalle geraten, weil er bei seinem Arbeitgeber Geld geliehen hat. Eine Kombination, die gar nicht so selten sei.

Die Kreditanträge habe er für Kunden immer so ausgefüllt, dass die Ausgabenseite tief genug gewesen sei, damit der Klient als kreditfähig durchging. Er habe auf Anweisung seiner Vorgesetzten gehandelt, die ihn nach der Einstellung so geschult hätten. «Zum Beispiel erfassten wir nie die Nebenkosten der Miete. Oder wir verschwiegen, dass der Klient auf ein Auto angewiesen ist für seine Arbeit.» Dabei seien oft absurd tiefe Lebenshaltungskosten herausgekommen, die in der Schweiz eigentlich völlig unrealistisch gewesen seien.

Dass er gegen das Gesetz verstosse, habe er schlicht nicht gewusst, sagt Graf. Und damals sei ihm die Tragweite seines Handelns auch nicht klar gewesen. Was ihm hingegen bewusst war: Anträge von externen Vermittlern waren häufig gefälscht. «Ich hatte gleichzeitig mit etwa zwanzig Vermittlern zu tun. Ich wusste genau, dass manche mit zweifelhaften Methoden arbeiten. Aber es war nicht meine Aufgabe, dem nachzugehen.»

Eine Zeitlang hat Graf bei einem unabhängigen Vermittler gearbeitet – also bei einem Unternehmen, das Provisionen erhält, wenn es Kreditinstituten Kundschaft bringt. «Hatte ein Klient Betreibungen, boten wir ihm an, diese Forderungen zu begleichen», sagt Graf. Denn wenn jemand mit offenen Forderungen im Betreibungsregister aufgeführt ist, darf die Bank ihm keinen Kredit geben.

Anreize auf Mitarbeiterebene wie Umsatzbeteiligung oder Provisionen habe es aber keine gegeben – weder beim Vermittler noch bei der Kreditbank. Graf hat aus seiner Sicht nie bewusst gegen das Gesetz verstossen, sondern Anweisungen der Vorgesetzten befolgt.

Jeder Bürger weiss das

Der Bank Now ist im Fall von Daniel Müller nichts aufgefallen. Sie hat ihm sogar einen zweiten Kredit gewährt – ohne die Kreditfähigkeit erneut zu prüfen, obwohl da schon klar war, dass ihn die Abzahlung des ersten Kredites überforderte. Ein schwerwiegender Verstoss gegen das Konsumkreditgesetz, findet Noori. Die Beweislast, nämlich zu zeigen, dass man die Kreditfähigkeit überprüft habe und mit Dokumenten wie Mietvertrag oder Lohnausweisen belegen könne, liege eindeutig bei der Bank. Für ihren Klienten fordert sie vor dem Bremgartner Gericht einen vollständigen Schuldenerlass und die Deckung aller Anwalts- und Gerichtskosten.

Nach Nooris Plädoyer meldet sich nochmals der Anwalt der Bank. Er hat das letzte Wort vor der Mittagspause. «Selbstverständlich weiss jeder Bürger, was im Gesetz steht», sagt er. Auch Müller habe das gewusst. Kreditverträge seien nichts Neues für ihn gewesen. «Er wusste genau, was von ihm verlangt wurde, er wollte einfach das Geld, und es war ihm egal.» Doch nun ändert der Anwalt seine Taktik: Die Bank Now will jetzt Vergleichsgespräche, sie will ein Urteil verhindern. Davon erfährt Noori erst jetzt. Das heisst: Die Bank wird Müller einen Deal anbieten, um seine Schulden zu reduzieren, wenn er auf einen weiteren Gerichtsprozess verzichtet und damit einen Urteilsspruch verhindert.

Daniel Müller geht darauf ein.

Er habe Rausan Noori vertraut, dass sie den Fall für ihn gewinnen könne, er habe das durchziehen wollen, sagt Müller Monate nach dem Termin in Bremgarten. Aber dann sei der Druck «von allen Seiten» gross gewesen. Die Frau zu Hause, die das Haus der Eltern habe kaufen wollen. Der Anwalt der Bank Now, der ihn davor gewarnt habe, was passieren könne, wenn er den Deal nicht annehme und das Gerichtsurteil nicht zu seinen Gunsten ausfalle. Und dann waren da noch die Richter, die ihm ins Gewissen redeten und ihn an seine Eigenverantwortung erinnerten. Müller weinte vor Gericht. Aus Scham und aus Schuld.

Banken verhindern absichtlich Urteil

Irgendwann in den letzten Minuten der Verhandlung ist Noori klargeworden, dass sich ihr perfekter Fall in ein weiteres Papierbündel für die Aktenablage verwandelt hat.

Warum das Gericht am Ende eines langwierigen Zivilprozesses, nach all dem Aufwand entschied, einen Vergleich zuzulassen, kann sie auch ein Jahr später noch nicht verstehen. Und was die Strategie der Bank Now anbelangt, ist sie nicht viel schlauer als zuvor: Die Banken verhinderten ein richterliches Urteil absichtlich, ist Noori überzeugt. Aber sie schaut nicht zurück. In Gedanken ist sie schon beim nächsten Fall.

Obwohl die Bank Now auf einen Grossteil ihrer Forderung verzichten musste, auf 55 000 von 80 000 Franken, wird Daniel Müller Jahre brauchen, um seine Schulden von 25 000 Franken aus dem noch offenen Kredit zu tilgen. Allein der Bank Now stottert er nach der Vergleichsvereinbarung 300 Franken monatlich ab – für die nächsten sechs Jahre. Teil des Deals war, dass die Bank die Betreibungen zurückzieht.

Für das ersehnte Eigenheim bekam das Ehepaar Müller eine Hypothek von der Bank. Dass er bei der Bank Now Schulden hat und deswegen vor Gericht stand, erzählte er dem Kundenberater offen. Der zeigte grosses Verständnis.

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