Freitag, August 22

Der russische Komponist trieb ein Katz-und-Maus-Spiel mit Stalin, indem er geheime Botschaften in seinen Werken versteckte. Fünfzig Jahre nach seinem Tod fragt man sich: Steht er in Moskau bald wieder auf dem Index?

Dmitri Schostakowitsch wird heute als der bedeutendste russische Komponist des 20. Jahrhunderts betrachtet. Sein vielfältiges Werk ist mittlerweile fester Bestandteil des Konzertrepertoires, es wird weltweit aufgeführt und differenziert besprochen. Dank Solomon Wolkows Buch «Zeugenaussage» von 1979, das den Untertitel «Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch» trägt, hat sich zudem herumgesprochen, was für ein lebensgefährliches Katz-und-Maus-Spiel Schostakowitsch während langer Phasen seines Lebens mit dem sowjetischen Diktator Stalin getrieben hat.

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Die Diskussion um die Authentizität der «Memoiren» ist zwar nie ganz verstummt. Aber Wolkow konnte in einem zweiten Buch, «Stalin und Schostakowitsch», viele ihrer aufsehenerregenden Enthüllungen untermauern, weil ihm Gewährspersonen aus der ehemaligen Sowjetunion nach der Wende von 1991 ungehindert entscheidende Aussagen bestätigten. Seither ist die zeitweise hysterisch geführte Diskussion, ob Schostakowitsch nun ein gefeierter Vasall des Sowjetstaates war oder ein heimlicher Dissident, merklich abgeflaut.

Nicht zuletzt deshalb, weil seither in der Musik selbst immer mehr Zitate und Anspielungen entdeckt wurden, die Schostakowitsch als subversive Botschaften in den Partituren versteckt hat. Viele Werke haben folglich einen doppelten Boden, nicht nur die Sinfonien. Und selbst bei vermeintlich linientreuen Stücken knirscht es mächtig unterm Tanzboden.

Ihr könnt predigen, was ihr wollt

Wie Schostakowitsch dabei vorging, zeigt etwa das Zitat «He du, Zar, so ist das Leben unmöglich» aus einem eigenen Lied, das er 1957 in seiner 11. Sinfonie einsetzte. Offiziell trägt die Elfte den Titel «Das Jahr 1905», es geht darin aber nicht um revolutionäre Vorgänge von anno dazumal, sondern um die schrecklichen Stalin-Jahre ab 1925 und ausdrücklich auch um die angebliche «Hilfe für das ungarische Volk», also den Einmarsch der Roten Armee nach dem Aufstand von 1956.

Schon nach der Verurteilung seiner Oper «Lady Macbeth von Mzensk» 1936 («Chaos statt Musik») reagierte Schostakowitsch nur scheinbar systemkonform. Seine 5. Sinfonie deklarierte er zwar als «kreative Antwort eines sowjetischen Künstlers auf berechtigte Kritik». Dass er aber schon im sechsten Takt ein Zitat aus Gustav Mahlers Lied «Des Antonius von Padua Fischpredigt» einstreute («Er geht zu den Flüssen und predigt den Fischen»), war geradezu eine halsbrecherische Kühnheit. Ihr da oben könnt predigen, was ihr wollt, es nützt nichts – so die Botschaft. Entschlüsselt wurde sie zum Glück erst im 21. Jahrhundert.

Bereits in seiner vor der Massregelung entstandenen 4. Sinfonie bringt er das Fischpredigt-Zitat frech in einen Zusammenhang mit der Melodie der «Internationalen» («Völker, hört die Signale»). Schostakowitsch hätte wohl sein Leben eingebüsst, wäre diese ironische Verbindung mit dem Hohelied des Sozialismus zur Stalin-Zeit erkannt worden. Womöglich hat er die Vierte, die progressivste seiner fünfzehn Sinfonien, auch deshalb kurz vor der Uraufführung zurückgezogen.

Drei Jahre nach Stalins Tod verurteilte Nikita Chruschtschow den Personenkult um den Diktator und löste damit eine zaghafte Liberalisierung aus. Diese Phase wurde nach dem Roman von Ilja Ehrenburg «Tauwetter» genannt. Die ideologische Lockerung liess auch zu, die Vierte 1961 in Moskau uraufzuführen, fünfundzwanzig Jahre nach ihrer Entstehung.

«Eine Art Feigenblatt»

Mehr als drei Jahrzehnte sind verstrichen, seit die UdSSR untergegangen und der Eiserne Vorhang gefallen ist. Die Hoffnungen sind längst wieder begraben, die Abschottung im politischen Bereich hat relativ rasch eingesetzt. Inzwischen hat sie auch den Kulturbereich erreicht und wirkt sich auf die Rezeption von Musik aus. Wie frei kann man im heutigen Russland noch über Musik sprechen? Ist die Diskussion um den geheimen Hintersinn vieler Werke Schostakowitschs schon wieder systemfeindlich?

Womöglich bin ich bereits auf eine Platzpatrone getreten, als ich etwa in der 12. Sinfonie das Zitat «Bin ich denn Methusalem?» entdeckte, das aus Schostakowitschs Lied «Die Nachkommen» stammt. In der Zwölften, die offiziell Lenins Wirken preist, ist es die vielsagende Antwort auf die Verheissung «Unseren Kindern winkt ein neues Morgenrot . . . in zweihundert Jahren». Das Lied gehört zu den «Satiren» op. 109, deren Titel wegen der Zensur auf Anraten der Sängerin Galina Wischnewskaja in «Bilder der Vergangenheit» verharmlost wurde. Schostakowitsch stimmte zu: «eine Art Feigenblatt, mit dem wir die anstössigen Teile bedecken».

Wäre es heute schon wieder gefährlich, dergleichen in Moskau zu erwähnen? Dürfte man noch auf das aufrührerische Zitat aus Rossinis Wilhelm-Tell-Oper verweisen, das durch die Sinfonien sechs und fünfzehn geistert? Oder gar auf das «Sei gegrüsst, der Freiheit ungezwungenes Wort» in der Elften? Was war das für eine Zeit in der Sowjetunion, als Schostakowitsch bei seinem Besuch der DDR 1960 einem Freund sagte, dass er «erstmals etwas von Freiheit verspürt» habe.

Wie sehr Schostakowitsch dennoch mit dem Feuer spielte, zeigt insbesondere die 9. Sinfonie, die man womöglich auch in Putins schöner neuer Welt bald wieder in den Giftschrank packen könnte – sofern man den Subtext, nach sowjetischer Manier, nicht schlichtweg ignoriert. Mithilfe einer Anspielung auf Mahlers Lied «Lob des hohen Verstandes» erklärt Schostakowitsch darin Stalin, der sich auch als oberster Kunstrichter gerierte, kurz gesagt zum Esel.

In Mahlers Lied zieht der Esel bekanntlich den schlichten Ruf des Kuckucks dem ausgefeilten Gesang der Nachtigall vor, weil ihm dieser zu kompliziert ist. In der Nomenklatur jener Zeit hiess das: Die Nachtigall widersetzt sich den Forderungen des «sozialistischen Realismus», wonach Musik für jedermann verständlich, also massentauglich, sein musste. Der arme Vogel ist also dem «Formalismus» verfallen, wie man es Schostakowitsch selbst wiederholt unterstellt hat – er muss eliminiert werden.

Wie soll man damit umgehen?

Noch heute, fünfzig Jahre nach Schostakowitschs Tod am 9. August 1975, stossen solche Lesarten, die unter die – gerade im Fall der Neunten betont harmlose – Oberfläche der Werke schauen, auf Widerstand. Nicht nur in Russland, auch bei einigen Forschern im Westen. So wurde etwa der erwähnte Bezug der 11. Sinfonie auf den Ungarn-Aufstand als «frommer Wunsch» abgetan; mit anderen Worten als der Versuch, die äusserlich linientreu wirkende Sinfonie vorsätzlich zu retten. Dabei hat Schostakowitsch selbst durchblicken lassen, dass deren Titel «Das Jahr 1905» und auch einige darin vorkommende Revolutionslieder bloss vorgeschoben waren, um überhaupt die Aufführung zu ermöglichen.

Wolkow hat indes immer auf dem geheimen Subtext beharrt, zuletzt 2004; ebenso Michael Sanderling, der Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters, dessen Vater Kurt Sanderling zu den Vertrauten Schostakowitschs gehörte. Jetzt haben beide recht bekommen, denn beim diesjährigen Symposium der Deutschen Schostakowitsch-Gesellschaft in Leipzig sind tagebuchähnliche Notizen vorgelegt worden, welche genau diesen Bezug bestätigen.

Im heutigen Russland ist sich die Kulturbürokratie offenbar noch uneins, wie man mit dem nicht mehr zu leugnenden subversiven Gehalt von Schostakowitschs Musik umgehen soll. Soll man ihn totschweigen – wie man es seit langem mit Tschaikowskys Homosexualität tut? Oder wider besseres Wissen als westliche Propaganda abtun? Die Frage ist heikel, umso mehr, als die schleichende Rehabilitierung Stalins voranschreitet. Vor kurzem wurde sogar ein Stalin-Denkmal rekonstruiert und in der Moskauer U-Bahn-Station Taganskaja aufgestellt, das während der «Tauwetter»-Periode entfernt worden war. Proteste dagegen – anscheinend gab es sie – wurden mit einem bizarren Hinweis auf Corona-Vorschriften untersagt.

Nachdem Stalin 1961 aus dem Mausoleum am Roten Platz in ein Grab an der Kremlmauer umgebettet worden war, hat der Dichter Jewgeni Jewtuschenko weitsichtig geschrieben: «Ich weiss, dass Stalin noch immer ein Mausoleum besitzt, solange seine Erben unter uns umgeh’n auf Erden.»

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