Mittwoch, April 2

Das links-grüne Milieu gibt sich gerne moralisch überlegen. Politische Gegner werden mit gutem Gewissen gehasst, wie die Demos gegen rechts zeigen. Doch es ist diese selbstgerechte Verachtung, die den Boden der Tyrannei bereitet.

Liberale Gesellschaften brauchen ein gesundes Immunsystem, um autoritäre, antidemokratische Gefahren zu erkennen und entsprechende Antikörper zu entwickeln. Das geschieht oft zu spät. Dabei lautet eine verbreitete Fehleinschätzung, dass die Gefahr für Demokratie und Freiheit von den Rändern der Gesellschaft ausgehe, etwa von Gruppen aus dem extremen linken oder rechten Spektrum.

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Zwar stimmt es, dass radikale Ideologien meist von Randgruppen ausgebrütet werden, doch zugleich zeigt die Geschichte totalitärer Regime, dass solche Bewegungen erst dann massenwirksam werden, wenn die Mitte der Gesellschaft dies zulässt. Ein selbstkritischer Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus oder des Kommunismus zeigt: Der lebenswichtige Träger des totalitären Virus ist der normale, angepasste Alltagsmensch, der sich für gesund hält. Es sind die Millionen von Mitmachern, Wegschauern und Schönrednern, die das Hassen und Morden in der Geschichte immer wieder möglich machen, indem sie nicht dagegen aufstehen und den Widerstand einer kleinen Minderheit überlassen, die am Ende wenig ausrichten kann.

In diesem wiederkehrenden Drama der Unmenschlichkeit sind die Namen der Despoten relativ austauschbar, auch wenn sich die bürgerliche Welt im Nachhinein gern auf sie kapriziert. Im Geschichtsunterricht oder in Dokumentationen zeigt man, um dem Terror ein Gesicht zu geben, mit dem Finger auf Hitler, Stalin, Mao oder Pinochet. Tyrannen, die es gewiss verdienen, so betrachtet zu werden, die es aber auch möglich machen, dass man von sich selber ablenkt, von den Millionen, die den Horror zugelassen haben.

Aus Bequemlichkeit opportunistisch

Ein gutes, liberales Immunsystem entsteht also nicht allein mit einem Blick auf Tyrannen und extreme Randgruppen, sondern dazu gehört die Erkenntnis, dass der ganz normale Bürger eine grundsätzliche Gefahr darstellen kann. Denn dieser bildet jene Mehrheit, ohne die sich keine grossen Verbrechen realisieren liessen. Jene Mehrheit, die nicht deswegen bedrohlich ist, weil sie besonders anfällig für das Böse wäre, sondern vor allem deswegen, weil ein angepasstes Leben oft lauwarm und teilnahmslos gegen das Leid anderer macht, weil Charakterschwäche und Ängstlichkeit viel mit Opportunismus zu tun haben.

Die unheimliche Tendenz der Mehrheitsgesellschaft zu Herdenverhalten und Feigheit ist allerdings nicht die einzige Quelle, aus der sich die Despotie nährt. Sondern dazu gehört auch die «Projektion», wie die Psychoanalyse sie versteht. Damit gemeint ist ein psychischer Vorgang, bei dem Menschen ihre eigenen Abgründe, die sie nicht ertragen, auf einen äusseren Feind projizieren.

Jeder Mensch neigt zu Hass, Intoleranz und Machtmissbrauch. Es ist schmerzhaft, mit dieser Realität umzugehen, also werden diese Neigungen auf den Lebenspartner oder auf Arbeitskollegen und Nachbarn übertragen. Besonders bequem ist die Opfer-Position, die es erlaubt, moralisch sauber dazustehen und das ganze Übel beim Täter zu sehen.

Dieser Mechanismus lässt sich auch in öffentlichen Debatten beobachten, wenn die eine Partei oder Gruppe die jeweils andere für den Hass und den schlechten Zustand der Gesellschaft verantwortlich macht. Das erinnert an die Sündenbock-Rituale vormoderner Zeiten. Ging es einem Dorf schlecht, durch eine lange Dürre oder Krankheit, suchte man sich einen Sündenbock. Wichtig war der Glaube daran, dass dieser Ursache des Übels sei und man das Problem lösen könne, indem man den Sündenbock opferte.

Die Geltungssucht der Gruppe

Die Scheiterhaufen von heute sind digital, die Hinrichtungen erfolgen nicht mehr körperlich, dafür wird der Charakter des Sündenbocks hingerichtet. Man bezeichnet ihn als Rassisten, Faschisten, Transfeind oder Demokratiefeind, damit es kein schlechtes Gewissen gibt, wenn man ihn aus der Gemeinschaft der Menschlichkeit exkommuniziert.

Dass man seinen politischen Gegenspieler mit gutem Gewissen hassen darf, ist entscheidend. Und genau das, ein Hass mit gutem Gewissen, ist die Essenz des Totalitarismus. Erst ein solcher Hass bereitet den Boden der Tyrannei, und es ist unheimlich, wie oft die Mitte der Gesellschaft das zulässt.

Zur Mehrheitsfähigkeit eines solchen Hasses gehört ein weiteres Phänomen, nämlich die Geltungssucht. Der US-amerikanische Philosoph John Rawls sieht in der Geltungssucht sogar die entscheidende Gefahr, insofern sie sich in Gruppen organisiert («Über Sünde, Glaube und Religion», Suhrkamp 2021). Je überlegener sich eine bestimmte Gruppe gegenüber einer anderen fühlt, desto massloser wird gemäss Rawls die Geltungssucht ihrer Mitglieder.

Als Beispiel skizziert Rawls den Marxismus als System, das Menschen nach ihrem ökonomischen Status bewertet hat: Die Gruppe der Arbeiterklasse stand moralisch höher als die Klasse der Besitzenden, die man mit gutem Gewissen hassen durfte. Im Vergleich dazu hatte der Nazismus die Menschen nach ihrem biologischen Status bewertet. Die Gruppe der Arier durfte sich als Herrenrasse fühlen und ebenfalls mit gutem Gewissen hassen. In beiden Fällen diente die Gruppe als Mittel zur geltungssüchtigen Befriedigung und des Anspruchs auf Überlegenheit.

Geltungssucht im Namen des Guten

Auch heute erheben viele Gruppen den Anspruch auf Überlegenheit. In Zeiten der politischen Korrektheit werden Menschen nicht mehr nach Klasse oder Rasse beurteilt, sondern nach dem moralischen Status der Diskursteilnehmer. Dazu passt das sogenannte Virtue Signalling: das öffentliche Zurschaustellen der eigenen Tugenden, um als guter Mensch dazustehen.

Mit der Regenbogenfahne, dem Ruf nach offenen Grenzen oder beim Marsch «gegen rechts» fühlt man sich auf der richtigen Seite. Aber es ist nicht mutig, für die Programme der Regierung einzustehen, wenn diese auch von den grossen Massenmedien mehrheitlich unterstützt werden. Wer derzeit «gegen rechts» oder für offene Grenzen protestiert, muss keine Restriktionen befürchten, sondern gilt als guter, staatstragender Bürger. Echter Widerstand richtet sich nicht gegen die Regierungsopposition, sondern gegen die Mächte der Zeit. Ein solcher Widerstand kostet Karriere, Ansehen und nicht selten den sozialen Tod. Das ist nichts, wofür die Massen auf die Strasse gehen. Abgesehen davon, dass gerade auch im links-grünen Lager gilt, dass man den politischen Gegner mit gutem Gewissen hassen darf.

Dabei ist der Kampf «gegen rechts», wie er sich zurzeit etwa in Deutschland zeigt, nichts Neues. Schon Mao hatte 1957 die «Anti-rechts-Bewegung» ins Leben gerufen, eine landesweite Säuberung der angeblichen Rechten. Dabei wurden bis zu zwei Millionen Menschen willkürlich als rechts eingestuft, verhaftet und hingerichtet. Die meisten Opfer waren Intellektuelle und Mitglieder der Opposition. Gewiss war es auch im damaligen China so, dass sich die Mao-treue Gruppe moralisch überlegen fühlte in einem erlaubten Hass auf die «Feinde des Fortschritts».

Sich als Gemeinschaft von Fehlbaren sehen

Was wäre eine liberale, menschenfreundliche Antwort auf die Geltungssucht und den Hass im Namen des Guten? John Rawls macht einen bedenkenswerten Vorschlag. «Es gibt keinen besseren Weg, die Geltungssucht und den Überlegenheitsanspruch einer Gruppe zu zerstören, als jeden aufzunehmen.»

Als Beispiel nennt Rawls das Christentum, das sich, richtig verstanden, als Gemeinschaft der Sünder versteht, die der Erlösung durch Gott bedürfen und zur Feindesliebe gerufen sind. Das gibt dem moralischen Hochmut wenig Nahrung, auch wenn die Geschichte zeigt, dass christliche Gruppen regelmässig versagen. Gleichwohl dürfte es stimmen, dass eine Gruppe, die jeden aufnehmen muss, auch den Dummkopf von nebenan, den Reaktionären und den Verbrecher, wenig Raum bietet, um mit gutem Gewissen zu hassen.

Die beste Voraussetzung für einen weltoffenen Liberalismus wäre demnach eine Gesellschaft, die sich als Gemeinschaft der Fehlbaren und Ergänzungsbedürftigen versteht. Eine Gesellschaft, die jeder moralischen Überlegenheit mit Misstrauen begegnet und gerade dadurch eine Hochkultur bildet. Dann könnte aus der unheimlichen Mitte der Gesellschaft eine heimatliche Mitte werden. Eine Mitte, in der jeder seinen Platz findet, aber niemand einen guten Grund, sich über andere zu erheben.

Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater.

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