Donnerstag, Oktober 3

Die Gewalttat hat die kosovo-albanische Diaspora in der Schweiz erschüttert. Jetzt steht der mutmassliche Täter vor Gericht.

Als Shpresa Hasani (Name geändert) in die Schweiz kam, war sie neun. Es war der 1. August 1990, und der Himmel über ihrer neuen Heimat brannte. Die Feuerwerke, erzählte ihr Vater, seien für sie gezündet worden – aus Freude über die Wiedervereinigung einer Familie, die der Kosovo-Krieg zerrissen hatte.

Als Shpresa Hasani die Schweiz 32 Jahre später zum letzten Mal verlässt, ist sie tot, gewaltsam um ihr Leben gebracht. Ihr Begräbnis in Kosovo gleicht einem Staatsbegräbnis. Mit Reden, Blitzlichtern und gehisster kosovarischer Flagge. Selbst die amtierende Justizministerin kommt und kondoliert.

Zwischen diesen zwei Momenten liegen Jahre des Erfolgs – und des Kampfs gegen Vorurteile in ihrer neuen Heimat.

Hasani ist klug, hat gute Noten. Aber ihre Lehrer wollen sie in die Realschule schicken. «Wie oft hatte ich von meinem Primarlehrer gehört: lieber eine gute Real- als eine schlechte Sekundarschülerin. Aber das ist falsch. In der Praxis zählt die Sek mehr», sagt sie Jahre später in einem Zeitungsartikel. In der Schweiz, lernt Hasani, «gibt es Grenzen für Leute, die nicht Meier oder Müller heissen».

Sie geht in die Sekundarschule, wechselt ins Gymnasium, schafft Matura, Studium, Doktorat. Schafft beim zweiten Anlauf die Einbürgerung, nachdem ihr erster Antrag an der Gemeindeversammlung ohne Begründung abgelehnt wurde. Dabei tritt sie nicht nur gegen jene in der Schweiz an, die ihr, der Kosovarin, nichts zutrauen. Sondern auch gegen das Frauenbild in der kosovo-albanischen Diaspora.

«Ich passe nicht in die Frauenschublade der Kosovaren»

Als 26-jährige Doktorandin sagt Hasani zu einem Journalisten: «Ich passe nicht in die Frauenschublade der Kosovaren, weil mir Bildung wichtiger ist als die Gründung einer Familie.»

Zur Autoprüfung sei ihr öfter gratuliert worden als zur Matura, erzählt Hasani. Sie solle nicht so viel studieren, wird ihr gesagt. «Ich habe es aufgegeben, andere Leute ändern zu wollen», sagt sie. «Ich mag ja meine Cousins, aber die Diskussionen über ihre Frauenbilder trieben mich nur noch in die Flucht.»

Ihre Flucht ist die Arbeit und der soziale Aufstieg. Als Ökonomin macht Hasani Karriere, wird Wirtschaftsprüferin und Kaderfrau bei global tätigen Unternehmen. Daneben doziert sie an einer Schweizer Universität, wird immer wieder von Journalisten porträtiert.

Bald gilt sie als Schweizer «Vorzeige-Kosovarin», obwohl sie diese Charakterisierung ablehnt. Es ist die Zeit, in der Kosovo-Albanerinnen und -Albaner öffentlich als schlecht integrierbare Kriminelle verunglimpft werden. Die SVP, die grösste Partei des Landes, schaltet Inserate mit dem Spruch «Kosovaren schlitzen Schweizer auf». Eine Aktion, für die die Verantwortlichen später wegen Rassendiskriminierung verurteilt werden.

Hasani ist überzeugt, dass die meisten ihrer Landsleute nicht diesem Stereotyp entsprechen. «Ich bin nicht die Ausnahme, sondern die Regel», sagt sie.

Es ist die bittere Wende in der Geschichte dieser Frau, dass ihr gewaltsamer Tod am Ende wie die Erfüllung eines solchen Stereotyps wirken wird.

Ist es ein Suizid?

Herbst 2022, ein ruhiges Einfamilienhausquartier in einer kleinen Aargauer Gemeinde in der Zürcher Agglomeration. Es ist vier Uhr Morgens. Polizisten und Rettungssanitäter stehen vor einer geschlossenen Badezimmertür, unter der Wasser hervordringt. Bei ihnen steht der 47-jährige Ehemann von Shpresa Hasani, scheinbar ausser sich vor Angst.

Die Tür wird aufgebrochen, drinnen liegt in der gefüllten Badewanne eine Frau, neben ihr ein Föhn. Es ist Shpresa Hasani, unterdessen 41. Die Rettungskräfte können nur noch ihren Tod feststellen.

Zunächst sieht es nach Suizid aus. Seine Frau habe sich im Badezimmer eingeschlossen und nicht auf sein Klopfen reagiert, sagt der Mann. Er ist es auch, der Rettungskräfte und Polizei alarmiert hat. Die Suizid-Geschichte wird er daraufhin oft wiederholen: gegenüber seinen und Hasanis gemeinsamen Kindern, gegenüber Verwandten.

Dabei ist sie komplett erlogen.

Ein rechtsmedizinisches Gutachten wird bald zeigen: Shpresa Hasani wurde gewaltsam getötet, auf brutale, quälende Weise. Eineinhalb Tage nach ihrem Tod nimmt die Polizei Hasanis Ehemann fest; er wird die Tat später gestehen.

Alle zwei Wochen eine Tote

Ein Mann tötet eine Frau, aus Besitzanspruch, als äusserstes Mittel der Machtausübung: Das kennzeichnet einen Femizid oder Frauenmord. Genau erfasst werden solche Taten in der Schweiz statistisch nicht. Doch Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: Etwa alle zwei Wochen wird in der Schweiz jemand im Kontext häuslicher Gewalt getötet. Der Täter: fast immer ein Mann. Das Opfer: fast immer eine Frau.

Wenn Männer Frauen töten

Beschuldigte und Opfer von vollendeten Tötungsdelikten im Kontext häuslicher Gewalt 2009–2023, nach Geschlecht

Überdurchschnittlich oft wird häusliche Gewalt dabei von Ausländern an Ausländerinnen verübt, und zwar über alle Altersgruppen hinweg. Der Fall von Shpresa Hasani ist insofern untypisch, als sie und ihr Mann beide Schweizer sind und seit Jahrzehnten im Land wohnen. Ihre Familie floh aus Kosovo hierher, seine aus Nordmazedonien.

Ihre Beziehung wirkt, zumindest auf Aussenstehende, sehr modern. Sie arbeitet Vollzeit, er schaut eher zu den Kindern. Sie macht Karriere, er arbeitet meist nur nebenbei. Während des Shutdowns, erzählt Hasani 2020 in einem Interview, sei er mit den Kindern zu Hause geblieben. «Hinter jeder starken Frau steckt eine noch stärkere Familie!»

Ein «Opfer von rückständigen Gewohnheiten»?

Hasani ist in der albanischen Community und darüber hinaus bekannt. Für viele ist sie ein Vorbild. Ihre Verwandten würden ihren Kindern sagen: «Werdet wie Shpresa und geht an die Universität!», erzählte sie schon im Alter von 26.

Ihr gewaltsamer Tod sorgt in der Schweiz und in Kosovo für einen Aufschrei. Er wird in der albanischen Diaspora zum Auslöser einer Debatte über Frauenfeindlichkeit und häusliche Gewalt.

In einem offenen Brief schreibt eine nahe Verwandte, Hasani sei ein «Opfer von rückständigen Gewohnheiten» geworden, gemäss denen «eine Frau nur dann ehrenvoll und komplett ist, wenn ein starker Mann hinter ihr steht». An die Tote gerichtet fügt sie an: «Du hattest so etwas am wenigsten nötig! Du warst deine eigene Herrin. Doch der Brauch und der verdorbene Geist konnten deinen Fortschritt nicht ertragen.»

Für die einen – etwa die Kolumnistin Kaltërina Latifi – steht der Fall für ein grösseres Problem. Es herrsche, schreibt sie kurz nach der Tat, unter Kosovo-Albanern eine unerträgliche Kultur des Schweigens über die vielen Frauen, «die nach aussen hin ein unscheinbares, normales Leben führen, während sie zu Hause von ihren Ehepartnern unterdrückt, psychisch malträtiert und geschlagen werden».

Andere sehen im Hinweis auf mögliche kulturelle Hintergründe der Tat einen Versuch, von der Schuld des Täters abzulenken – und der albanischen Community eine Mitverantwortung zu geben. Frauenmorde und häusliche Gewalt als Problem der «schlechten Albaner» abzutun, sei schlicht rassistisch, kommentiert nach dem Femizid das Online-Medium «Watson».

«Jetzt kann ich nicht mehr»

Ist hier eine Schweizerin einem in der Schweiz erschreckend verbreiteten Verbrechen zum Opfer gefallen? Oder wurde eine albanischstämmige Seconda an einem selbstbestimmten Leben gehindert, weil sie sich nicht an die patriarchalen Normen ihres Herkunftslandes halten wollte?

Der Ort, an dem auf diese Frage nun eine Antwort gesucht wird, liegt zwischen Wald und Autobahn, im schmucklosen Industriegebiet von Schafisheim im Kanton Aargau. Hierhin, in ein Verwaltungsgebäude der Kantonspolizei, weicht das Bezirksgericht Baden aus, wenn ein Fall die Kapazitäten in den eigenen Räumlichkeiten sprengt.

Zeuge um Zeugin tritt an diesem ersten Prozesstag in den Verhandlungssaal. Sie erzählen von seltsamen Momenten in den Wochen vor dem Tod: wie Hasanis Mann Vorkehrungen für die Kinder treffen wollte für den Fall, dass er und seine Frau sich nicht mehr um sie kümmern könnten; wie er sie über ihr Handy getrackt haben soll; wie er einer Verwandten gesagt haben soll, Hasani sei depressiv, stehe kurz vor dem Burn-out. Wobei die Verwandte selbst sie als fröhlich erlebte.

Das ganze Haus der Familie ist mit Kameras überwacht, laut Anklageschrift der Staatsanwaltschaft durchsucht der Beschuldigte regelmässig Mobiltelefon und Laptop seiner Frau. Auf seinem Smartphone sammelt er Standortdaten, Hotelbelege und freizügige Fotos von ihr.

Dann, im Herbst 2022, kommt es zu einem Streit. Laut Anklage sagt sie zu ihm: «Hör auf, meine Nachrichten zu lesen. All das, es ist nichts, was sich gehört. Hör auf, in meine Privatsphäre einzudringen.» Und wenig später: «Nein, fertig. Jetzt kann ich langsam nicht mehr, ich suche mir eine andere Wohnung.»

Fünfzehn Stunden später ist sie tot.

«Unser Stolz und unser Schmerz»

Wie genau er die Tötung vollzogen hat, wie geplant sie war und was das Motiv ist: Darauf wird das Gericht in den kommenden Tagen Antworten finden müssen. Auch der genaue Beziehungsstatus der Eheleute ist unklar: Laut einer Arbeitskollegin lebten sie zwar zusammen, waren aber faktisch getrennt. Der Familie gegenüber traten sie dagegen als Paar auf.

Laut Anklage überrascht der Beschuldigte seine Frau in der Nacht beim Duschen und entdeckt auf ihrem Mobiltelefon Hinweise auf eine Beziehung mit einem anderen Mann. Fotos, zum Teil explizit. Im darauffolgenden Streit würgt er sie und drückt sie unter Wasser, bis sie ertrinkt. Danach soll er versucht haben, das Ganze wie einen Selbstmord aussehen zu lassen.

Die Staatsanwaltschaft plädiert deshalb auf Mord, spricht von einer geplanten, besonders skrupellosen Tat. Wie die Verteidigung argumentieren wird, ist noch offen. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Der Beschuldigte – an Händen und Füssen gefesselt in den Gerichtssaal geführt – sitzt an diesem Tag still da. Hört zu, wie die Verwandten seines Opfers von ihren schlaflosen Nächten berichten, ihren Suizidgedanken, ihrem durch die Tat zerstörten Familienleben, den durch die Tat verängstigten Kindern. Davon, wie eine von Hasanis Nächsten, von Trauer zerstört, wie ein Eisberg an der Sonne dahinschmelze.

Diese Familie, einst vom Krieg getrennt und in der Schweiz wieder zusammengeführt, hat – so sagten es mehrere Verwandte – ihre zentrale Figur verloren. Sie, die «immer erfolgreich, immer optimistisch» blieb, auch wenn andere längst aufgegeben hatten.

Im offenen Brief, der nach Shpresa Hasanis Tod erschien, heisst es: «Du wirst für immer unser Stolz und unser Schmerz bleiben.»

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