Donnerstag, August 28

Handtaschen von Dior verweisen auf Werke grosser Schriftsteller, das Modelabel Miu Miu betreibt einen Literaturklub: Wenn’s edel sein muss, macht sich Kultur gut.

Im Sommer wird die verbreitete Klage über die allgemeine Lesefaulheit vorübergehend ausser Kraft gesetzt. Von der Fashion-Redaktorin bis zum CEO: Alle geben öffentlich ihre Tipps für die Strandlektüre zum Besten. Die Wahl fällt bisweilen überraschend aus, oft ist sie banal. Ob sie die Bücher tatsächlich gelesen haben, bleibt ein unüberprüfbares Geheimnis. Doch das Bedürfnis, sich als Leser zu outen, beweist: Lesen signalisiert Bildung, Anspruch und Niveau. Die literarischen Vorlieben sind ein effektives Mittel zur Selbstdarstellung.

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Es ist wenig überraschend, dass sich die Modeindustrie die Eitelkeit der Konsumenten zunutze macht. Mit der ihr eigenen Selbstverständlichkeit bedient sie sich gerade genüsslich der Weltliteratur. Der Couturier Jonathan Anderson, neu ernannter Chefdesigner von Christian Dior, präsentierte in seiner ersten Kollektion für das Haus Handtaschen und Clutches, die Klassikerausgaben unter anderem von Nabokov, Joyce und Flaubert nachempfunden sind.

«Dracula by Bram Stoker» ist da beispielsweise zu lesen. Oder «Choderlos de Laclos: ‹Les Liaisons dangereuses›». Weltliteratur als Accessoire – da reiben sich Leser wie Nichtleser verwundert die Augen. Die einen aus ungläubigem Wissen, die anderen aus seliger Ignoranz. Genau darum geht es.

Das Label Miu Miu wiederum lancierte anlässlich des diesjährigen Möbelsalons in Mailand einen «Literary Club», um sein «Engagement für zeitgenössisches Denken» unter Beweis zu stellen. Der Event, abgehalten im exquisit ausgestatteten Bibliothekssaal eines historischen Palazzos, wurde zu einem der meistbesuchten der ganzen Messe.

Die Intimität des Schlafzimmers

Kein Wunder, dass sich anspruchsvolle Hausbesitzer von der Ausstrahlung eines solchen Raumes anstecken lassen. Im angelsächsischen Raum hat ein regelrechter Boom für «Library Services» eingesetzt. Diese umfassen nicht nur das Design aufwendiger Heimbibliotheken, sondern füllen sie auch mit Inhalt – sorgfältig kuratiert und farblich abgestimmt. Der Schritt in die Intimität des Schlafzimmers ist da nicht mehr weit. Als Marketingmassnahme für ihren Buchklub Library Science hat das Supermodel Kaia Gerber neben T-Shirts mit der Aufschrift «Hot / Can read» auch eine Linie eleganter Nachthemden im Angebot.

Während die Konsumgüter- und Luxusindustrie kulturelles Kapital anhäuft, biedern sich Kulturinstitutionen immer penetranter bei Stars und Influencern an. Schlagendes Beispiel dafür ist die Art Basel, die von einer Kunstmesse zu einem ausgelassenen Society- und Party-Event mutiert ist. Der Erfolg des Wanderzirkus, der mittlerweile an Standorten rund um den Globus stattfindet, verdankt sich wesentlich der Anwesenheit von Prominenten. Diese wiederum, von Leonardo DiCaprio bis Kim Kardashian, wissen genau um die imagebildende Qualität von Kunst.

Ist Kultur plötzlich sexy geworden? Und ist das vielleicht sogar gut für sie? Einiges spricht dafür, dass es den Anliegen der Kultur nützt, wenn sie im Mainstream eine Rolle spielt, statt ein Mauerblümchendasein im Elfenbeinturm zu fristen. Anderseits: Verkommt sie in den glamourösen Inszenierungen nicht zur reinen PR-Massnahme, zu einer Art von dekorativem Wandschmuck?

Vor allem aber stellt sich die Frage, was passiert, wenn Kulturproduktion auf ihre symbolisch-performative Ebene reduziert wird. Das treibt seit je die Gemüter der Kritiker, Historiker und vor allem der Kulturpessimisten um. Doch Nasenrümpfen ist fehl am Platz. Schliesslich stellt sich die Kulturproduktion seit Jahrhunderten in den Dienst jener, die bereit und solvent genug sind, um dafür zu bezahlen. Und dass sich die meisten Künstler ihre Kunst selbst nicht leisten können, ist kein Systemfehler, sondern ein Merkmal der Kunstproduktion seit ihren Anfängen, genauso wie das Mäzenatentum.

Der Kommerz läuft sich tot

Das Neue an der heutigen Form «kultureller Aneignung» (der einzige Kontext, in dem dieser Begriff Sinn ergibt) ist, dass sie aus einer Mangelerscheinung erwächst. Der inhaltbefreite Kommerz hat sich totgelaufen und steckt in einer existenziellen Sinnkrise. Die Produktzyklen drehen immer schneller, die Desorientierung der Menschen nimmt im gleichen Ausmass zu, wie ihre Aufmerksamkeitsspanne abnimmt.

Die Frage nach dem «Warum» und «Wofür» von Statussymbolen wird lauter. In den letzten Jahren lautete die Antwort darauf: Das Prinzip der Gewinnmaximierung diktiert, was auf den Markt kommt. Und das mimetische Begehren, der Wunsch, das Gleiche zu besitzen wie der Nachbar, entscheidet über unsere Zahlungsbereitschaft. Jean Baudrillard stellte schon 1981 fest, dass wir dem Image und Prestige eines Objekts mehr Wert beimessen als dem Gegenstand selbst. Die moderne Markenwelt fusste lange einzig und allein auf dieser Tatsache.

Die Entkopplung der Simulation von der Realität ist heute aber so weit fortgeschritten, dass vor allem jüngere Menschen der Generation Z darauf mit Desillusionierung und Ablehnung reagieren. Den grossen Marken der Konsumgüter-, Mode- und Luxusindustrie fällt es immer schwerer, ihre exorbitanten Preise angesichts dürftiger Werteversprechen und chronischer Innovationsarmut zu rechtfertigen.

Händeringend suchen sie nach Inhalt und Substanz, um einen Anstrich von Glaubwürdigkeit zu bewahren und relevant zu bleiben. Die vermeintlich beständigen, sinnstiftenden Werte der Kultur sind der Rettungsanker, an den sie sich klammern. Wenn es werthaltig sein soll, macht sich Kultur gut. Literatur und Kunst weisen über den Tag hinaus auf vermeintlich ewige Werte. Das ist ein reines Mittel zum Zweck.

Endlosschleifen

So gesehen ist die Kultur leichte Beute in einer langen Nahrungskette, an deren Spitze sich Akteure wie Meta und Tiktok geschoben haben. Sie hegen weitaus grössere Ambitionen als die Vermarktung von Produkten. Ähnlich wie der Konsum ist auch die Unterhaltungsindustrie darauf ausgerichtet, die Menschheit bei Laune zu halten. Dass auch sie akut davon bedroht ist, von der Bildfläche zu verschwinden, ist nicht zuletzt den Social-Media- und KI-Giganten zu verdanken.

Denn klassische Unterhaltungsformate wie Film, TV und Musik, genauso wie aufwendig produzierte Streaming-Inhalte, vereint ein grosses Manko: Sie verschlingen Zeit. Zeit, die wir nicht mehr aufbringen können, weil uns die Fähigkeit zur Konzentration rapide abhandenkommt. Stattdessen suchen wir nach schneller Ablenkung im Fünfzehn-Sekunden-Snack-Format und dem damit verbundenen Dopaminkick.

In den Augen der Psychiaterin und Autorin Anna Lembke sind wir auf dem besten Weg, ein Kollektiv von Scrolling-süchtigen Junkies zu werden. Oberflächliche Kulturreferenzen sind in diesem Szenario ein reines Stimulans in der Endlosschleife der Instagram- und Tiktok-Feeds. Selbst der zu spätem Social-Media-Ruhm gelangte und kürzlich verstorbene Antiquar Klaus Willbrand, der vielen als Hoffnungsschimmer in einem Meer inhaltsloser Blödelvideos galt, erscheint mit seinen gelehrten Exkursen zur klassischen Literatur als kurioser Statist im grossen Karussell der Ablenkungsmaschinerie.

Die zahlreichen Versuche, Kultur in portionierter oder homöopathischer Form zu verkaufen, haben Schule gemacht. Aber sie basieren auf einem fundamentalen Missverständnis: Kultur hat kein spezifisches Gewicht. Sie ist weder besonders leicht noch besonders schwer, deshalb kann sie keiner Handtasche zu einem tieferen Sinn verhelfen. Was sie sehr wohl kann, ist, uns daran zu erinnern, was es bedeutet, aufmerksam zu sein und sich mit vielschichtigen Inhalten auseinanderzusetzen, gegebenenfalls allein und in aller Stille.

Angesichts der gelebten Realität von zwanghaftem Medienkonsum, konstanter Ablenkung und übersteigertem Aktivismus, die uns vorgaukelt, Teil der Action zu sein, obwohl wir nur passive Zuschauer sind, klingt das anstrengend, wenn nicht unmöglich. Der damit einhergehenden Selbstentfremdung entgegenzuwirken, ist aber die grosse Stärke jeder Auseinandersetzung mit Kunst und Literatur. Und das dürfte der ultimative Luxus sein, den man sich gönnen kann.

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