Sonntag, März 16

Genf ist drauf und dran, eine 68-strophige Hymne von 1603 zu verewigen. Aber ist die Verfassung der richtige Ort dafür?

Genfer Eishockey- und Fussballfans kennen sie. Teilnehmer von traditionsreichen Anlässen auch. Politiker und andere Gewählte sowieso. Ja, eigentlich kennt ganz Genf «Cé qu’è lainô», die unbestrittene Hymne des westlichsten Kantons der Schweiz – und fast alle können sie zumindest ansatzweise singen. Nur verstehen tut sie kaum jemand.

Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Das Lied, das 1603 von unbekannter Autorenschaft komponiert wurde, ist im damaligen Genfer Dialekt gehalten. Frankofone Ohren kommen damit höchstens noch ansatzweise zurecht – «Cé qu’è lainô» beispielsweise steht für «Celui qui est en haut» («Derjenige, der oben ist»).

Was sich hingegen schon sehr bald ändern könnte, ist die juristische Verankerung der Hymne. Bis anhin war sie einfach ein etwas altbackenes Volkslied, das alle in der Schule erlernen und das bei Sportanlässen und offiziellen Zeremonien zum Besten gegeben wird. Doch nun hat es beste Chancen, in die Kantonsverfassung aufgenommen zu werden. Die Genfer Bevölkerung stimmt am 3. März darüber ab, die Mehrheit der Parteien empfiehlt ein Ja.

Köpfe wie Frühstückseier

Dabei ging es eigentlich zuerst in die andere Richtung los: Der SP-Kantonsrat Sylvain Thévoz wollte im Dezember 2022 von der Regierung in einer schriftlichen Anfrage wissen, ob es nicht an der Zeit wäre, das gottesfürchtige «Cé qu’è lainô» mit der in Genf verfassungsmässig garantierten Laizität in Einklang zu bringen. Gleichzeitig könnte man die Hymne doch auch weniger blutrünstig gestalten, so seine Idee.

In der Tat werden die Häupter im mehrere Seiten langen Liedtext geköpft, als wären sie Frühstückseier («67 Köpfe haben sie gelassen; der Scharfrichter hat sie zugeschnitten; er legte sie auf zwei oder drei Holzleisten; um sie allen zeigen zu können»). Fast die Hälfte aller Strophen sind der Hinrichtung von Kriegsgefangenen gewidmet.

Denn das Lied geht auf ein historisches Ereignis zurück, das Genf wie kein zweites geprägt hat. In einer dunklen Dezembernacht im Jahr 1602 versuchten über 2000 savoyardische Söldner, die Stadt zu erobern. Doch die Genfer konnten sich mirakulös verteidigen, der Legende nach erschlug eine Bewohnerin einen fremden Soldaten gar mit einem heissen Suppentopf. Ein Zeitzeuge hat die Vorkommnisse ein paar Wochen später im Text von «Cé qu’è lainô» verarbeitet.

Jeden Dezember feiert Genf an der «Escalade» den Sieg über die Angreifer. Suppentöpfe aus Schokolade werden zerschlagen – und die Hymne wird angestimmt. Aus Genf ist sie nicht mehr wegzudenken.

«Kein Komma ändern»

Aber ist sie auch zeitgemäss, ja soll sie das überhaupt sein? Die Genfer Regierung beantwortete Thévoz’ Frage zurückhaltend und verwies auf den historischen Kontext. Für eine Änderung des Textes sah sie keine Veranlassung.

Doch der SP-Mann hatte etwas ins Rollen gebracht. Der SVP-Vertreter Stéphane Florey echauffierte sich derart über die Absichten seines Ratskollegen, dass er in die Gegenoffensive ging. Er arbeitete einen Verfassungsartikel aus, der «Cé qu’è lainô» ein für alle Mal als «offizielle Hymne der Republik und des Kantons Genf» festschreiben würde. Prompt stimmte im Mai 2023 eine Mehrheit des Grossen Rats für das Anliegen.

«Es kommt nicht infrage, auch nur ein Komma unserer Hymne zu ändern. Sie gehört zu unserer kantonalen Identität und muss geschützt werden», sagt Florey. Um die Verfassung nicht heillos zu überladen – «Cé qu’è lainô» weist nicht weniger als 68 Strophen auf –, würde der Text nicht integral aufgenommen, sondern in einem Zusatz erwähnt. Gesungen werden in der Regel nur vier Strophen.

Suisse Chérie - Cé Qué l'aino

Floreys Mission geht freilich über das eigentliche Lied hinaus. Mit seinem Vorstoss kämpft er gegen die «unsäglichen Woke-Tendenzen, mit denen man unsere Geschichte ausradieren will». Der Text möge aus heutiger Sicht grausam erscheinen. Aber er beziehe sich nun einmal auf ein Ereignis, das so oder ähnlich stattgefunden habe. «Und ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass schon einmal ein Kind, welches das Lied erlernen musste, daran Schaden genommen hat», sagt er.

SP verzichtet auf Parole

«Cé qu’è lainô» gehört in Genf derart zum kantonalen Brauchtum, dass sich nur wenige Politiker getrauen, sich daran die Finger zu verbrennen. Die SP etwa, immerhin die wählerstärkste Partei, verzichtet auf eine Abstimmungsparole.

Die Grünen hingegen empfehlen ein Nein. Das ganze Drumherum der «Escalade» – die Verkleidungen, die gemeinsam verspeiste Suppe in der Kälte, der Gesang – sei zwar durchaus sympathisch, findet die Präsidentin Delphine Klopfenstein.

Sie stört sich am blutrünstigen Text der Hymne, ihr Widerstand ist aber vor allem prinzipieller Natur. «Eine Verfassung regelt die wesentlichen Grundsätze des Zusammenlebens. Eine Hymne, so traditionell sie auch sein mag, hat darin schlicht nichts verloren», so Klopfenstein. Sie sei sich angesichts der Emotionalität des Themas bewusst, dass die Abstimmung wohl verlorengehe – was allerdings «keine Katastrophe» wäre, sagt sie.

Schweizerpsalm erst 1981 zur Hymne erklärt

Die Genfer Polemik erinnert an Diskussionen auf Bundesebene. Weil die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) einen alternativen Text vorgeschlagen hatte, wollte der Ständerat den Schweizerpsalm – der erst seit 1981 die offizielle Nationalhymne ist – schützen. Allerdings auf Gesetzes- und nicht auf Verfassungsstufe. Das Vorhaben scheiterte schliesslich im Nationalrat.

In Genf stehen die Chancen der Traditionalisten deutlich besser. Es wäre der erste Kanton, der eine Hymne derartig verewigen würde. Doch sogar wenn die Verfassungsänderung keine Mehrheit finden sollte – der Initiant Stéphane Florey verspricht, am Abstimmungsabend zu singen. Welches Lied er anstimmen wird, ist nicht allzu schwer zu erraten.

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