Montag, Oktober 7

Giovanni Gentile war ein bedeutender Intellektueller und unter Benito Mussolini Bildungsminister. Nun ehrt ihn Italien mit einer Briefmarke. In Südtirol fordern Politiker Konsequenzen.

In Italien und ganz besonders in der autonomen Region Südtirol empören sich Politiker in diesen Tagen über eine Briefmarke. Sie sagen, die Briefmarke sei «ein Armutszeugnis für die italienische Postbehörde». Andere empfinden sie als «Affront gegen Südtirol».

Die Briefmarke zeigt das Porträt eines Mannes, der in Südtirol für die Unterdrückung der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerung steht: Giovanni Gentile.

Gentile war Philosoph, Intellektueller, Stichwortgeber des italienischen Faschismus. Unter dem Diktator Benito Mussolini war Gentile von 1922 bis 1924 Bildungsminister. Gentile war beteiligt am Versuch, die deutsche Sprache und die kulturellen Eigenheiten aus Südtirol zu verbannen.

Für die Regierung von Giorgia Meloni und die italienische Postbehörde steht Gentile für anderes. Bei der Präsentation der Briefmarke rühmten Minister der Regierung den Faschisten Gentile als «Reformer» und «einen der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts».

Es ist wie oft in Italien: Im historischen Gedächtnis klaffen Lücken. Und die Regierung bemüht sich, dass es so bleibt.

Ein Pädagoge und Politiker des Gleichschritts

Gentile wurde 1875 auf Sizilien geboren, studierte Philosophie, unterrichtete als Gymnasiallehrer und erhielt ab 1906 Professuren in ganz Italien. Zunächst galt er als apolitisch.

Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges wandte sich Gentile erst nationalistischen und dann faschistischen Positionen zu. Als Benito Mussolini 1922 Ministerpräsident wurde, berief er Gentile zum Bildungsminister. Später verfasste Gentile ein Manifest, das mehr als zweihundert Intellektuelle Italiens unterschrieben. Das Manifest rechtfertigte die Gewalt der faschistischen Schwarzhemden, legitimierte das Regime und verklärte den Faschismus quasi als moderne Religion.

Als Bildungsminister setzte Gentile eine Bildungsreform durch. Nach Gentiles Vorstellung sollte die Schule aus der jungen Generation kämpferische Tatmenschen machen, einen neuen Italiener schaffen. Dem Tatmenschen Mussolini kam das recht. Er hatte Pläne für eine neue Jugend, die durch die Strassen paradiert, stramm-römisch grüsst und sich in den laufenden und kommenden Angriffskriegen verheizen lässt.

Gentiles Schulreform legte Italienisch als einzige Unterrichtssprache auf dem gesamten Staatsgebiet fest. Für sprachliche Minderheiten, wie die deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler, war das ein Angriff auf ihre Identität. Davon gab es etliche.

Gentiles Schulreform war Teil einer breit angelegten Politik der Italianisierung. Mitte der 1920er Jahre ersetze das faschistische Regime deutsche Orts-, Flur- und Familiennamen in Südtirol durch italienische. Aus Innichen machte es San Candido, aus Linsberg Monte Luigi, aus Müller Molinari.

Südtirol sollte eine italienische Provinz werden, die sich nur landschaftlich von Latium, der Toskana, der Emilia-Romagna unterschied. Regionale Eigenheiten galten als überholt. In der faschistischen Theorie gingen alle italienischen Staatsbürger in einer Volksmasse auf. In Südtirol widersetzten sich einige diesem Plan. In sogenannten «Katakombenschulen» unterrichteten sie Kinder und Jugendliche weiterhin auf Deutsch.

1944 wurde Gentile erschossen. Vermutlich von kommunistischen Partisanen. Obwohl Gentile schon Ende der 1920er Jahre mit Mussolini gefremdelt hatte, blieb er zeitlebens ein Faschist.

Späte Empörung

Seit Gentiles Ermordung sind achtzig Jahre vergangen. In diesem Frühling zeigte das Fernsehen deshalb Dokumentarfilme. Museen eröffneten Ausstellungen, und die Post trug mit der Briefmarke zum Gedenken bei. Italien ehrte den Philosophen Gentile, der in ganz Europa wahrgenommen und besprochen wurde. Über den Faschisten Gentile war kaum etwas zu hören.

Lange weckten die Ehrungen Gentiles kaum breites Interesse. Doch nun, vier Monate später, ist das Thema in Südtirol zum Politikum geworden.

In dieser Woche stellten vier Abgeordnete der Süd-Tiroler Freiheit im Südtiroler Landtag, dem Regionalparlament, eine Anfrage. Sie wollen von der Landesregierung wissen, ob sie die italienische Regierung auffordern werde, die Briefmarken Gentiles zurückzuziehen.

Die Süd-Tiroler Freiheit fordert als Partei die Loslösung Südtirols von Italien, die Wiedervereinigung mit Österreich oder alternativ die Unabhängigkeit von Südtirol. Die Partei bezeichnete Italien in den sozialen Netzwerken bereits als «Bananenrepublik» und möchte die «linksromantische Kuschelpolitik» gegenüber kriminellen Ausländern beenden.

Am selben Tag wie die Süd-Tiroler Freiheit haben auch Politiker und Politikerinnen der christlichdemokratischen Südtiroler Volkspartei (SVP) auf die Briefmarken reagiert. Die SVP hat seit ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg sämtliche Landeshauptleute Südtirols gestellt und verfügte bis 2013 durchgehend über die absolute Mehrheit im Landtag. Die Partei ist die stärkste politische Kraft im deutschsprachigen Südtirol.

Dieter Steger, Obmann der SVP, schrieb in einer Pressemitteilung, die Aufarbeitung des Faschismus sei in Italien grundsätzlich «mehr als dürftig», die Briefmarke sei dabei ein weiterer «trauriger Höhepunkt» und «in keinem Fall tolerierbar». Steger, der Mitglied der italienischen Abgeordnetenkammer ist, kündigte an, im Parlament eine Anfrage zu stellen. Er wolle wissen, wer für die Briefmarken verantwortlich sei, und erwarte von der italienischen Regierung eine «klare Distanzierung».

Zuständig für die italienische Post und die Briefmarke ist Minister Adolfo Urso. Bei der Präsentation der Briefmarke bezeichnete er Gentile als «eine der wichtigsten Figuren im italienischen Kulturpanorama der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts». Über Gentiles Rolle im Faschismus schwieg er. Urso ist Mitglied der Fratelli d’Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. In der Südtiroler Regierung koaliert die SVP seit diesem Jahr mit ebendieser Partei.

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