Ally Louks wird auf X beschimpft, per Mail wird ihr Gewalt angedroht. Die britische Polizei ermittelt.

Sie wollte nur einmal ein bisschen feiern. Kurz vor Ende des Jahres postete die junge Britin Ally Louks auf X ein Foto von sich selbst. In den Händen hielt sie ihre frisch gebundene Dissertation. Die Freunde und Kollegen sollten wissen, dass Louks an der Universität Cambridge erfolgreich ihr Studium abgeschlossen hatte. Was dann kam, konnte niemand ahnen. Fast 121 Millionen User weltweit haben den Post der Sechsundzwanzigjährigen bis heute angeklickt. Es gibt zwölftausend Kommentare. Nicht wenige davon machen den Shitstorm aus, der sich über der Geisteswissenschafterin zusammengebraut hat.

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Ally Louks wurde auf X beschimpft, per Mail wurde ihr Gewalt angedroht. Die britische Polizei ermittelt. Das Dissertationsthema scheint es in sich zu haben. Es steht auf dem roten Einband der Doktorarbeit: «Olfactory Ethics: The Politics of Smell in Modern and Contemporary Prose». Zu Deutsch etwa: «Olfaktorische Ethik. Zur Politik des Geruchs in der modernen und zeitgenössischen Prosa». Vielleicht wissen 121 Millionen X-User jetzt, was das Wort «olfaktorisch» bedeutet. Was man nicht hoffen kann: dass sie auch wissen, was in dem literaturwissenschaftlichen Traktat drinsteht. Den kennen bislang nur die Prüfer und die Autorin selbst.

«Ethik» als Reizwort

Der Fall aus England ist jetzt schon ein Klassiker. Wer die Geisteswissenschaften am liebsten aus den Bildungsinstitutionen entfernen möchte, weil er sie für nutzlose Orchideenfächer hält, der wird schon am Dissertationsthema seine verquere Freude haben. Wer braucht so etwas? Ein anderer Teil der Internet-Debattierer geht davon aus, dass die Autorin Teil der Wokeness-Bewegung sei. Schon bei der «Ethik» im Titel handelt es sich um ein Reizwort, und dass es in Ally Louks’ Doktorarbeit laut Zusammenfassung auch um Themen wie Rassismus und Klassismus geht, hat die Phantasie wohl zusätzlich beflügelt. Noch ein Aufreger: Hier werde Steuergeld für unsinnige und verschwurbelte Forschung verschwendet.

Im Fall von Ally Louks ist dieser Tage die Wochenzeitung «The Economist» aktiv geworden und hat ihr Dissertations-Abstract gemeinsam mit Hunderten anderen aus den Geisteswissenschaften einem Verständlichkeitstest unterzogen. Das Fazit: Legt man den standardisierten Flesch-Lesbarkeitsindex zugrunde, sind Abstracts in den letzten achtzig Jahren immer unverständlicher geworden. Die Zusammenfassung von Louks, ebenfalls auf X gepostet, kommt auf einen Wert von 15. Der Inhalt ist damit für Menschen ausserhalb der Universitätsblase unterdurchschnittlich gut durchschaubar.

Kann sein, dass der Riss zwischen akademischem Jargon und normalsprachlicher Wirklichkeitserfassung auf X besonders deutlich spürbar ist, aber er allein würde vielleicht nicht ausreichen, ein globales Publikum von 121 Millionen in Wallung zu versetzen. Auch an Louks’ Doktoratsthema selbst scheint etwas anrüchig zu sein. Es polarisiert. Tausende User wollen mittlerweile wissen, wie es mit Publikationsplänen für die Dissertation steht, und durch diese erfahren, wie Virginia Woolf, George Orwell, Vladimir Nabokov, J. M. Coetzee oder Patrick Süskind Gerüche als Indikatoren sozialer Unterschiede beschreiben. Wer nicht gut riecht oder anders riecht, ist draussen.

Über die Wahrnehmung der Mutter hinaus

Manche der ungehemmtesten Louks-Kritiker auf X haben versucht, das Thema gegen die Autorin zu wenden. Einer schrieb, sie sei krank und verrottet. Ein wohlgesinnter Wissenschaftskollege aus Göttingen gratulierte Ally Louks, weil ihre Dissertation offenkundig wohl nicht nur von der eigenen Mutter und ein paar akademischen Würdenträgern wahrgenommen werde, sondern von der ganzen Welt.

Die britische Doktorandin hat übrigens einen prominenten Vorläufer. 1892 verfasste der Amerikaner John Gregory Bourke eine epochale Dissertation, die später unter dem Titel «Der Unrat in Sitte, Brauch, Glauben und Gewohnheitsrecht der Völker» erschien. Das Shitstorm-Gewohnheitsrecht auf X konnte Bourke darin naturgemäss noch nicht aufnehmen, aber Sigmund Freud hat ein Vorwort geliefert und aus dem «Faust» zitiert. «Uns bleibt ein Erdenrest / Zu tragen peinlich», heisst es da. Und endet in dem Bedauern: «Er ist nicht reinlich.»

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