Als sadistische Säuglingskillerin wurde Lucy Letby 2023 zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Doch ist die Krankenschwester in Wirklichkeit ein Opfer eines ungeheuerlichen Justizirrtums?
Lucy Letby wurde von den Medien als «Todesengel» und als «teuflische Krankenschwester» betitelt, als «bösartiges Monster» oder als «feige Sadistin». Die britische Öffentlichkeit hatte den Prozess gegen sie mit Grauen verfolgt und erleichtert reagiert, als sie ein Geschworenengericht im Sommer 2023 zu mehreren lebenslänglichen Haftstrafen verurteilte. Der Richter eröffnete der heute 35-Jährigen, dass sie den Rest ihres Lebens für ihre abscheulichen Taten im Gefängnis büssen und hinter Gittern sterben werde.
Lucy Letby gilt als kaltblütigste Serien-Kindermörderin der modernen britischen Geschichte. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie 2015 und 2016 sieben neugeborene Babys umgebracht hatte. In sechs weiteren Fällen wurde ihr versuchter Mord nachgewiesen, für einen siebten Mordversuch wurde sie in einem zweiten Prozess verurteilt. Alle Opfer waren Babys, die Letby als Kinderkrankenpflegerin im Countess of Chester Hospital im Nordwesten Englands betreute.
Der Appellationsgerichtshof in London schmetterte im letzten Sommer ihr Gesuch um Berufung ab. Doch meldeten sich in den letzten Monaten immer mehr Experten zu Wort, die Zweifel an Letbys Schuld äussern und einen Verdacht nähren: Könnte sie das unschuldige Opfer eines der grössten Justizskandale Grossbritanniens sein?
Zettel aus der Psychotherapie
Nährboden für die Zweifel ist der Umstand, dass es nie einen stichfesten Beweis für Letbys Schuld gab: Weder haben Zeugen gesehen, wie die Pflegerin die Säuglinge tötete. Noch gibt es forensische Belege oder Aufnahmen von Überwachungskameras, auf denen die Morde zu sehen wären.
Auch fehlen ein Geständnis oder ein klares Motiv: Letby hatte bis zu den verdächtigen Todesfällen ein unauffälliges Leben geführt, Freunde und Bekannte trauten ihr die Morde nicht zu. Umso erschreckender wirkte die Vorstellung, dass sich hinter der Fassade der harmlosen Durchschnittsbürgerin eine grausame Mörderin verbarg.
Verurteilt wurde Letby aufgrund von Indizien. Verdächtig wirkte etwa, dass die Krankenschwester medizinische Dokumente zu den unter ihrer Obhut verstorbenen Babys zu Hause aufbewahrte. Die Staatsanwaltschaft präsentierte den Geschworenen auch kleine Zettel, die Letby vollgekritzelt hatte. Zu lesen sind darauf Sätze wie «Ich bin böse, ich habe es getan» oder «Ich habe sie umgebracht, ich bin nicht gut genug, um für sie zu sorgen». Allerdings finden sich auch Aussagen wie «Ich habe nichts getan», «Rufmord» oder schlicht: «Hilfe!»
Wie der «Guardian» im letzten Herbst berichtete, waren die Zettel das Ergebnis von Psychotherapiesitzungen. Ein Therapeut hatte die unter Mordverdacht stehende Letby aufgefordert, alle ihre Gedanken und Gefühle wild durcheinander niederzuschreiben. Dies nährt Zweifel an der Stichhaltigkeit der Zettel als gerichtliche Beweise. Letby sagte aus, sie habe befürchtet, die Babys unabsichtlich durch ihr Unvermögen getötet zu haben.
Umstrittene statistische Methoden
Die Staatsanwaltschaft hingegen ging von einer vorsätzlichen Mordserie aus: Konkret soll Letby einigen Säuglingen Luft in die Blutbahnen gespritzt haben, andere wurden mit Milch überfüttert, wieder andere mit Insulin vergiftet. Medizinische Analysen und Expertenaussagen dienten vor Gericht dazu, diese These zu stützen.
Zudem legte die Staatsanwaltschaft dar, dass Letby bei allen verdächtigen Todesfällen Dienst gehabt habe. Konkret wurde den Geschworenen ein von der Polizei erstelltes Diagramm mit Todesfällen oder Kollapsen von Babys präsentiert. Gemäss der Darstellung ist Letby die einzige Pflegerin, die bei allen Verdachtsfällen auf der Station im Einsatz stand.
Zu den Experten, welche diese Argumentation kritisieren, gehört auch Jane Hutton. Sie ist die ehemalige Vorsteherin der Abteilung Statistik und Recht bei der Royal Statistical Society und ordentliche Professorin an der Universität Warwick: «In diesem Prozess wurden alle Regeln der statistischen Beweisführung gebrochen», erklärt sie im Gespräch.
Hutton wurde im Fall Letby von der Polizei zunächst als Expertin beigezogen, dann aber schlug die Staatsanwaltschaft ihre Empfehlungen in den Wind. Statt die Wahrscheinlichkeit aller plausiblen Todesursachen zu berechnen, sei die Staatsanwaltschaft von der Schuld der Krankenschwester ausgegangen und habe nach Beweisen für diese These gesucht, sagt Hutton.
Weitere Todesfälle, die sich ausserhalb der Dienstzeiten Letbys ereignet hatten, wurden nicht als verdächtig eingestuft und daher auch nicht im Diagramm erfasst. Da die Staatsanwaltschaft vor Gericht nur jene Todesfälle präsentierte, bei denen Letby auf der Station war, entstand laut Hutton ein «irreführendes Bild», das ihre Schuld suggerierte.
Natürliche Ursachen statt Morde?
Hutton ist mit ihrer Skepsis nicht allein. Anfang Februar trat Shoo Lee, ein pensionierter kanadischer Neonatologe, an einer Pressekonferenz in London auf. Der renommierte Mediziner präsentierte einen brisanten Befund: «Lucy Letby wurde des siebenfachen Mordes verurteilt, aber die medizinischen Tatsachen bezeugen keinen einzigen Mord.»
Lee hatte sich mit dem Fall zu befassen begonnen, weil sich die Staatsanwaltschaft auf einen seiner wissenschaftlichen Artikel aus dem Jahr 1989 gestützt hatte. Darin beschreibt Lee tödliche Luftembolien bei Babys, nachdem versehentlich Luft in die Venen der Neugeborenen geraten ist. Letby wurde vorgeworfen, manchen ihren Opfern mit Absicht Luft in die Blutbahnen geflösst zu haben.
Lee wirft der britischen Justiz vor, sie habe die Erkenntnisse seines Artikels falsch interpretiert. In der Folge berief der Neonatologe im Auftrag von Letbys Verteidigern ein ehrenamtliches Panel medizinischer Experten aus aller Welt ein, das die Obduktionsberichte und die medizinischen Beweise für Letbys angebliche Schuld analysierte.
Bevor er den Auftrag annahm, erhielt Lee die Zusicherung, dass die Schlussfolgerungen des internationalen Panels unabhängig vom Ergebnis veröffentlicht werden würden. «Wir fanden keine Morde», so fasste Lee die Resultate der Untersuchung vor den Medien zusammen. «Alle Fälle von Tod oder Schädigung waren Folgen natürlicher Ursachen oder von schlechter medizinischer Versorgung.»
Spital in der Kritik
Unklar ist, weshalb die Anwälte von Letby Experten wie Hutton und Lee nicht schon während des Prozesses als Zeugen für die Verteidigung aufboten. Zudem ist unbestritten, dass es in der Neonatologie-Abteilung des Countess of Chester Hospital 2015 und 2016 tatsächlich zu einer Häufung von Todesfällen kam.
Hutton führt dies am ehesten auf mangelhafte Betreuung und Hygiene zurück. Tatsächlich stand die Abteilung wegen akuten Personalmangels in der Kritik von Aufsichtsbehörden, aber auch wegen ungenügenden Umgangs mit schwerkranken Babys und einer Häufung bakterieller Infektionen.
Haben die Ärzte und Manager des Spitals also Letby die Morde in die Schuhe geschoben, um von eigenen Versäumnissen abzulenken? Und hat die britische Justiz dieses Vorgehen aus Unbedarftheit oder gar mit Absicht gedeckt?
Diesen Verdacht äussern nur die wenigsten Experten offen. Die britischen Medien berichten ausführlich über die neuen Wendungen im Fall, aber halten sich mit Urteilen zurück. Es gibt auch kaum Beobachter, die Letby zweifelsfrei für unschuldig erklären. Kaum bestreiten lässt sich inzwischen aber, dass die Beweisführung der Staatsanwaltschaft viele Fragen aufwirft: «Für mich steht ausser Zweifel, dass die Verurteilung von Letby nicht rechtssicher war und dass es nie zu einem Prozess gegen sie hätte kommen sollen», sagt Hutton.
Sowohl Hutton wie Lee legen ihre Erkenntnisse und Berichte nun der Criminal Case Review Commission (CCRC) vor, einer Behörde, die mögliche Justizirrtümer untersucht. Eine Neuauflage des Prozesses oder ein Freispruch für Letby wären aber nur möglich, wenn die CCRC die Erkenntnisse rechtlich als neue Beweise einstuft, obwohl sie bereits beim ursprünglichen Prozess verfügbar gewesen wären. Zudem müsste die CCRC hinreichenden Grund zu der Annahme sehen, dass der Schuldspruch nicht rechtssicher ist.
Die CCRC sah sich in letzter Zeit mit dem Vorwurf konfrontiert, bestehende Urteile nicht kritisch genug zu hinterfragen. Mehrfach verweigerte die CCRC etwa dem verurteilten Vergewaltiger Andrew Malkinson Gehör: Malkinson sass 17 Jahre lang unschuldig im Gefängnis, bis er 2023 aufgrund von DNA-Beweisen freigesprochen wurde.
Die CCRC steht unter grossem öffentlichem Druck: Sie wird auf die Einwände der Zweifler eingehen müssen, um sicherzustellen, dass der Fall Lucy Letby nicht als einer der krassesten Justizirrtümer Grossbritanniens in die Geschichte eingeht.