Donnerstag, April 24

Die amerikanische Regierung sieht die freie Rede in Grossbritannien gefährdet. Dies auch wegen Vorschriften für Abtreibungsgegner. Was ist dran an den Vorwürfen`?

Wer die Meinungsäusserungsfreiheit in Grossbritannien in ihrer traditionellen Form erleben will, fährt am besten in den Londoner Hyde Park. Genauer gesagt in die nordöstliche Ecke des Parks, die als Speakers’ Corner bekannt ist. Seit 160 Jahren machen hier bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten vom Recht auf freie Rede Gebrauch – von Karl Marx über Wladimir Lenin bis zu George Orwell. Sagen darf man im Rahmen des Gesetzes so ziemlich alles, solange man damit leben kann, dass offen widersprochen wird.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Widerspruch provoziert an diesem Sonntagmorgen Pastor Orlando. Der afrikanischstämmige Prediger in Anzug und Krawatte ist ein häufiger Redner am Speakers’ Corner. Er lässt sich gerne auf Wortgefechte mit Muslimen ein und versucht, sie von der Überlegenheit des christlichen Glaubens zu überzeugen.

Auch jetzt hat sich um den scharfzüngigen Pastor eine Ansammlung gebildet, wobei er diesmal mit jungen Frauen über Feminismus streitet. «Was genau begründet Ihre Angst vor Männern, so dass Sie sich nicht Ihrem Ehegatten unterwerfen wollen?», fragt er herausfordernd. Wegen der Gefahr einer Vergewaltigung getraue sie sich nicht mehr, am Abend im Hyde Park zu joggen, sagt eine Frau. «Warum müssen Sie denn abends joggen?», entgegnet der Pastor. «Sie haben doch den ganzen Tag dafür Zeit.»

Revival dank dem Internet

Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es in London noch rund hundert solche Plätze im öffentlichen Raum, wo Redner abstruse, provokative oder revolutionäre Meinungen verbreiten durften. Bis heute überlebt hat nur der Speakers’ Corner, der dank den neuen Medien ein Revival erlebt. Jugendliche Influencer zeichnen die Wortgefechte mit dem Handy auf oder zetteln sie sogar selber an, um die Videos in den sozialen Netzwerken zu verbreiten. Pastor Orlando ist auf Tiktok schon lange ein Phänomen.

Bis heute gilt der Speakers’ Corner im Hyde Park als Symbol für Toleranz, Redefreiheit und eine offene Debattenkultur. Aber spiegelt er auch die Realitäten im Land? Oder ist die freie Rede in Grossbritannien ganz im Gegenteil bedroht, wie das die amerikanische Regierung behauptet?

Massive Kritik aus Washington

Washington verwendet für Grossbritannien derzeit Worte, die man bis vor kurzem eher an die Adresse eines autokratischen Landes wie Russland gerichtet hätte. Wegen eines Prozesses gegen eine Abtreibungsgegnerin zeigte sich das amerikanische Aussendepartement jüngst «ernsthaft beunruhigt über die Meinungsäusserungsfreiheit in Grossbritannien». Ein amerikanischer Beamter wurde im «Daily Telegraph» mit Blick auf die Gespräche über einen Handelspakt gar mit einer Drohung zitiert: «Kein freier Handel ohne freie Rede.»

Auch der amerikanische Vizepräsident J. D. Vance wurde in seiner Rede an der Münchner Sicherheitskonferenz sehr deutlich: «Mit den Rückschritten bei der Gewissensfreiheit geraten die Grundrechte namentlich von religiösen Briten ins Visier.»

Der britische Premierminister Keir Starmer wies die Ermahnungen entschieden zurück. Jonathan Sumption, ein ehemaliger Richter am Supreme Court, sprach in der BBC von einer «ungerechtfertigten Einmischung», zumal die USA mit ihrer Anti-Wokeness-Kampagne selbst die Meinungsäusserungsfreiheit strapazierten.

Der Streit ist auch Ausdruck kultureller Unterschiede. Während die amerikanische Verfassung nur wenige Beschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit zulässt, war die freie Rede in Grossbritannien stets stärker reguliert. Die gesetzlichen Limiten reichen von der Verteidigung der öffentlichen Ordnung bis zum Verbot von Hassrede oder Verleumdung.

Die Grenzen werden immer wieder neu justiert: 1727 wurde der Verleger Edmund Curll nach der Publikation eines erotischen Buches wegen «Störung des königlichen Friedens» öffentlich an den Pranger gestellt. 1972 kritisierten am Speakers’ Corner drei irische Nationalisten das Vorgehen der britischen Truppen in Nordirland, worauf sie wegen Volksaufstands im Gefängnis landeten. 2022 nahm die Polizei im Hyde Park eine islamkritische Konvertitin wegen des Verdachts auf Hassrede fest, wobei ein Gericht die Verhaftung später als rechtswidrig taxierte und der Frau Schadenersatz zusprach.

Die Debatte, ob Grossbritannien die Grenzen des Sagbaren zu eng ziehe, hat mehrere Facetten. Als Reaktion auf den woken Zeitgeist erliess das Parlament 2023 ein Gesetz, das Universitäten dazu verpflichtet, die Meinungsäusserungsfreiheit auf dem Campus zu garantieren. Jüngst wurde die Universität von Sussex zu einer hohen Strafzahlung verknurrt, weil sie die genderkritische Philosophin Kathleen Stock nicht gegen Anfeindungen von Transaktivisten geschützt hatte.

Meistens aber tritt der Staat nicht als Garant der Meinungsäusserungsfreiheit auf, sondern er beschneidet sie. 2021 klassierte die Organisation Index for Censorship Grossbritannien als nur «teilweise freies Land». Negativ zu Buche schlugen etwa Gesetze gegen Verleumdungen, die oft zu Klagen und Maulkörben für Journalisten führen. 2024 trat in Schottland ein Gesetz in Kraft, das Minderheiten vor hetzerischen Beleidigungen schützen soll. Entgegen den Befürchtungen von genderkritischen Feministinnen wurde aber bisher niemand wegen Missachtung des Gesetzes angeklagt.

Immer übereifrigere Polizei

Bei der Debatte um die Grenzen der freien Rede stehen heute die Online-Plattformen im Vordergrund. Stephen O’Grady von der konservativen Lobbygruppe Free Speech Union glaubt, dass es die Regierung Trump auf die britische Online Safety Act abgesehen habe. Das Gesetz ist in Amerika als protektionistisch verschrien, da es Aufsichtspflichten für Plattformen wie Facebook oder X schafft und ihnen mit hohen Bussen droht. «Leute wie Elon Musk haben an der Meinungsfreiheit nicht nur ein politisches, sondern auch ein kommerzielles Interesse», sagt O’Grady.

Inhaltlich hält O’Grady die amerikanische Kritik für teilweise berechtigt – gerade mit Blick auf die Online Safety Act. Das Gesetz wurde 2023 von der damaligen konservativen Regierung verabschiedet. Gemäss den schwammigen Paragrafen kann auch die Veröffentlichung von Inhalten geahndet werden, die zwar legal sind, aber Personen Schaden zufügen können.

«Wir entwickeln uns zu einer Gesellschaft, in der alles, was Leute vor den Kopf stösst, kriminalisiert wird», konstatiert O’Grady. Im Nachgang der fremdenfeindlichen Proteste vom Sommer 2024 ging die Justiz hart gegen «Tastatur-Krieger» vor. Doch O’Grady beobachtet, dass die übereifrige Polizei inzwischen längst nicht nur dann einschreitet, wenn sich jemand im Internet offen rassistisch äussert oder zu Gewalt aufruft.

Für Aufsehen sorgte im März der Fall eines Ehepaars aus der Grafschaft Hertfordshire, das sich in einer Eltern-Whatsapp-Gruppe über die Schulleitung beklagt hatte. Wegen des Verdachts auf Online-Belästigung wurde es anschliessend von sechs Polizisten in Handschellen abgeführt, vor den Augen der weinenden Tochter der beiden. Auf dem Polizeiposten wurden sie stundenlang verhört.

Wenige Tage später stürmten in London bewaffnete Polizeibeamte ein Zentrum der pazifistischen Religionsgemeinschaft der Quäker. Sie verhafteten eine Gruppe jugendlicher Aktivisten, die Hummus assen und über Proteste gegen den Gaza-Krieg und den Klimawandel diskutierten. «Ich weiss nicht, was diese Jugendlichen planten», sagt O’Grady. «Aber eine solche Razzia wäre der Auflösung eines Treffens der Kaida angemessen gewesen.»

Keine Gebete in der Pufferzone um Abtreibungskliniken

Konkret beobachten lassen sich die Grenzen der Meinungsäusserungsfreiheit an einer Strassenecke im Quartier Ealing im Westen Londons. Auf dem Trottoir steht eine Gruppe von Frauen, neben einem Baum haben sie einen Altar mit einem Marienbild aufgebaut. Eine Frau murmelt Gebete. «Wir beten für die Mütter und Väter, die ein Kind abgetrieben haben. Wir beten auch für den Abtreibungsarzt und seine Mitarbeiter. Mögen sie bereuen und sich der Gnade und Vergebung Jesu öffnen.»

Würde die Frau wenige Meter entfernt beten, geriete sie mit dem Gesetz in Konflikt. Dann befände sie sich in der Pufferzone rund um die Abtreibungsklinik West London Regional Treatment Center. Innerhalb solcher zwischen 150 und 500 Meter breiten Zonen sind Handlungen von Abtreibungsgegnern gesetzlich verboten.

Dem Katholiken J. D. Vance sind vor allem diese Einschränkungen für Abtreibungsgegner ein Dorn im Auge. Namentlich erwähnt hat er den Fall von Adam Smith-Connor. Der 51-jährige Kriegsveteran und Physiotherapeut erzählt im Gespräch, vor zwanzig Jahren habe seine damalige Partnerin abgetrieben. Danach habe er sich zum reuigen Abtreibungsgegner gemausert wegen eines Albtraums, den er als göttliches Zeichen interpretiert.

Für Schlagzeilen sorgte Smith-Connor vor drei Jahren, weil er in Bournemouth innerhalb der Pufferzone um eine Abtreibungsklinik wortlos betete. «Jemand rief die Polizei. Darauf sprachen mich zwei Beamte an, um sich nach der Natur meiner Gebete zu erkundigen. Als ich antwortete, ich betete für meinen verstorbenen Sohn, brummten sie mir eine Busse von 100 Pfund wegen Störung der öffentlichen Ordnung auf.» Smith-Connor hat die Busse nie bezahlt und ficht sie durch alle Instanzen an. Christliche Aktivisten feiern ihn als Helden.

Ein Ringen um Verhältnismässigkeit

Vor den Kliniken treten auch Gruppen auf, die den schwangeren Frauen und dem Klinikpersonal mit der Hölle drohen und Bilder von abgetriebenen Embryos in die Höhe halten. «Wir aber verurteilen niemanden, sondern bieten Hilfe an», beteuert die 43-jährige Arvita, die sich an diesem Vormittag in Ealing an der Mahnwache beteiligt. Ihren vollen Namen möchte die Inderin nicht nennen.

Arvita hat kein Verständnis für die Pufferzonen. Vor zwölf Jahren suchte sie selber die Klinik in Ealing auf. Damals lebte sie als Studentin ohne Arbeitsbewilligung mit ihrem Mann in London, als sie ungewollt schwanger wurde. «Ich wollte nicht abtreiben, aber wir hatten kein Geld», sagt sie. «Der Hausarzt schickte mich in die Klinik. Vor der Tür drückte mir eine Frau einen Flyer in die Hand. Als ich nach der ersten Konsultation wieder auf die Strasse trat, fiel ich der Frau weinend in die Arme, und sie versprach, mir zu helfen, wenn ich das Kind behalte.»

Die Aktivisten organisierten für die Hindu-Familie eine Wohnung und übernahmen die Kosten für Miete, Windeln und Babykleider. Heute ist Arvita als Hotelangestellte finanziell unabhängig. Ihr Sohn ist elf Jahre alt. «Wenn die Frauen nicht direkt vor der Klinik gebetet hätten, wäre alles anders gekommen», sagt sie.

In den Strassen von Ealing erscheint der grosse Grundsatzkonflikt um die Meinungsäusserungsfreiheit auf einmal als diffiziles Ringen um Verhältnismässigkeit. Abtreibungen sind in Grossbritannien legal und breit akzeptiert. Frauen haben einen Anspruch darauf, ihr Recht auszuüben, ohne belästigt zu werden. Aber ist es verhältnismässig, auch stille Gebete und das Verteilen von Flugblättern mit Hilfsangeboten zu verbannen? Und ist es unverhältnismässig, von Abtreibungsgegnern zu verlangen, ihr Recht auf freie Meinungsäusserung ausserhalb einer Pufferzone auszuüben?

Am Ende werden diese Fragen wohl die Gerichte klären. Für Smith-Connor kann es nur eine mögliche Antwort geben: «Wenn der Staat anfängt, uns für unsere stillen Gedanken und Gebete zu bestrafen, ist dies das Ende der Freiheit in England.»

Exit mobile version