Mittwoch, Oktober 23

Im Kieler Stadtteil Wik waren Flüchtlinge lange willkommen. Doch seit einigen Monaten sorgen sie für Ärger. Das Sozialamt ist der Ansicht, die Anwohner sollten sich besser selbst darum kümmern.

Eigentlich ist die Wik kein klassisches Problemviertel. Überall stehen Häuser aus rotem Backstein und mit weissen Sprossenfenstern, Alleen und Strassen aus Kopfsteinpflaster durchziehen den Kieler Stadtteil. Ein Mann führt seinen Jack-Russell-Terrier Gassi, die Leine in der einen, den Schirm in der anderen Hand. «Bürgerlich», sagen viele, wenn sie ihre Nachbarschaft beschreiben.

Doch seit kurzem ist die norddeutsche Idylle gefährdet. Eine kleine Gruppe von zugewanderten Roma sorgt für Ärger. Sie hört bis in die Nacht laut Musik. Sie lässt ihren Müll auf der Strasse liegen. Sie beklaut die Supermärkte im Viertel. In der Lokalzeitung ist gar die Rede von einem Anwohner, der mit einem Messer bedroht worden sein soll.

All das sollte die Behörden einer Grossstadt wie Kiel nicht überfordern. Zunächst berichtete denn auch nur die Lokalpresse über den Fall. Dann allerdings gab der Sozialdezernent Kiels, der Sozialdemokrat Gerwin Stöcken, ein vielbeachtetes Interview. Er riet den Anwohnern, sich selbst um die Flüchtlinge zu kümmern.

Leben die Migranten ohne Regeln?

«Wir kommen an eine Grenze, an der auch die Nachbarschaft selbst mitmachen kann», sagte er den «Kieler Nachrichten». Die Anwohner sollten sich einmal aus dem Haus trauen und den Flüchtlingen sagen, «dass es keine gute Idee ist, nach 22 Uhr die Musik auf dem Rasen voll aufzudrehen». Das Interview kam in der Bürgerschaft eher weniger gut an.

Die Gruppe, etwa dreissig Personen, ordnete Stöcken mit den Worten «als Roma gelesen» ein. Sie lebe nach ihren eigenen Regeln, ohne Unrechtsbewusstsein. Stöcken hielt es deshalb für wenig hilfreich, solchen Leute mit der Polizei oder Gerichtsverfahren zu kommen.

Wenn man Ingrid Lietzow darauf anspricht, schüttelt sie den Kopf. Der 78 Jahre alten Anwohnerin muss niemand raten, die Flüchtlinge selbst anzusprechen. Das tut sie schon seit langem. «Die lachen mich bloss aus», sagt Lietzow.

Zigarettenstummel und Dosen in der Idylle

Lietzow hat fast ihr ganzes Leben in der Wik verbracht. Sie ist in dem Viertel aufgewachsen und arbeitete sechzehn Jahre lang als Gleichstellungsbeauftragte bei der dort stationierten Marine. Zwei Jahrzehnte lang vertrat sie das Viertel für die Sozialdemokraten in der Kieler Ratsversammlung.

Sie hat ständig mit den Flüchtlingen zu tun, denn sie betreibt ein Museum zur Geschichte des Stadtteils, das direkt auf dem Gelände des Flüchtlingsheims liegt. Wer in die Unterkunft oder das Museum will, muss durch einen Torbogen aus rotem Backstein. Dann geht es über den Innenhof zu den Unterkünften oder zum Museum. Vor dem Eingang liegen regelmässig Zigarettenstummel, leere Schnapsflaschen und Bierdosen.

Lietzow hat Verständnis, dass die Flüchtlinge manchmal draussen feiern wollen. In der Unterkunft ist es eng, Metallbetten und Spinde reihen sich aneinander. Aber ihren Müll, den sollten die Flüchtlinge schon wegräumen. Lietzow hat die Bewohner schon mehrfach auf das Problem angesprochen. Es wolle dann aber niemand gewesen sein.

Lietzow ist es wichtig, die Unterschiede bei den Migranten zu erklären. Die Probleme gingen von einer ganz bestimmten Gruppe aus, sagt sie, den Roma. Die Ukrainer hingegen räumten regelmässig auf. «Es machen nicht alle Ärger.»

Die Flüchtlinge wurden einst mit Ballons empfangen

Die Probleme im Viertel schmerzen Lietzow besonders. Denn im traditionell linken Stadtteil waren die Flüchtlinge lange willkommen. 2015, als die ersten Migranten in die Arkonastrasse zogen, organisierten die Bürger Sprachkurse, sogar Fahrten in den Tierpark für die Kinder. Das Museum, das Lietzow betreibt, füllte sich mit gespendeten Hosen, Anoraks und Schuhen. Achtzig ehrenamtliche Helfer stellten binnen weniger Tage eine Kleiderkammer auf die Beine.

Endlich hatte die Technische Marineschule, in der die Flüchtlinge untergebracht wurden, wieder eine Bestimmung. Bis Anfang der nuller Jahre bildete die Marine in dem Gebäude aus der Kaiserzeit Offiziersanwärter aus, danach stand es leer. Für Lietzow und andere war es eine Zeit des Aufbruchs.

Mit «Leckereien und Ballons» wurden die ersten Flüchtlinge bei ihrem Einzug empfangen, so steht es in einem Newsletter der Diakonie aus dieser Zeit. An das Tor der Unterkunft hingen Ehrenamtliche ein weisses Bettlaken. Darauf schrieben sie in verschiedenen Sprachen «willkommen».

Wo früher Bordelle waren, steht nun ein Bio-Café

Aber nun ist es mit der Geduld vieler Anwohner vorbei. Die Ereignisse hätten das Sicherheitsgefühl der Menschen verändert, hiess es kürzlich in einem Kommentar der Lokalpresse. «Selbst von denen, die unverdächtig sind, diese Ereignisse für die eigene politische Agenda zu missbrauchen.» Viele seien es satt, dass Gesetzesbrechern kein Einhalt geboten werde. Auch die wohlmeinendsten Bürger haben eben Grenzen, auch in einem linken Viertel. Sie beginnen dort, wo ihre persönliche Lebensqualität zu leiden beginnt.

Und als wäre das nicht genug, kommt zu allem nun noch der Einwurf von Sozialdezernent Stöcken, über den sich viele ärgern. Man könne es nicht den Bürgern überlassen, für Ordnung zu sorgen, sagt Lietzow. «Das ganze positive Denken geht kaputt.»

Hinzu kommt: Die Gegend ist anspruchsvoller geworden. Im einstigen Marineviertel mit zwielichtigen Kneipen, Bordellen und Kasernen leben mittlerweile junge Familien. Es gibt ein Bio-Café, in dem man seinen Cappuccino mit Hafer- oder Kuhmilch trinken kann, einen Coworking-Space und ein Atelier, in dem lokale Künstler ihre Werke ausstellen.

Die Polizei sieht kein Problem in dem Viertel

Bei der letzten Gemeindewahl erhielten die Grünen dort, wo die Flüchtlinge untergebracht sind, 31,8 Prozent der Stimmen. CDU und SPD lagen fast gleichauf mit jeweils rund 21 Prozent. Die AfD lag abgeschlagen bei 4,1 Prozent, noch hinter dem Südschleswigschen Wählerverband, der Partei der dänischen Minderheit. So war es jedenfalls bislang.

Die Polizei leitete nach eigenen Angaben zwischen Oktober 2023 und September 2024 «eine hohe dreistellige Zahl» an Ermittlungsverfahren gegen Bewohner der Unterkunft ein. Einen «Kriminalitätsschwerpunkt» sehen die Behörden in dem Viertel aber nicht. Laut der Polizeistatistik ist die Wik nicht gefährlicher als andere Gegenden Kiels. Die Polizei werde «sehr selten» angerufen, sagt ein Sprecher.

Die AfD nutzt die Debatte für sich

Dass es kein Problem gebe, sehen nicht alle so. Die oppositionellen Christlichdemokraten kritisieren den Umgang der Stadt mit den Ängsten der Anwohner. Ralph Roick vom CDU-Ortsverband sagt: «Hier werden selbst Leute vor den Kopf gestossen, die sich eigentlich immer für die Flüchtlinge eingesetzt haben.» Die Stadt dürfe sich nicht aus der Verantwortung stehlen, sagt er. «Es kann nicht im Sinne der demokratischen Parteien sein, die Anwohner in Richtung AfD zu treiben, indem man vor der Lage fast kapituliert.»

So markig klingt die CDU erst seit kurzem. In der vergangenen Woche war es ausgerechnet die AfD, die das Thema in der Ratsversammlung auf die Tagesordnung setzte. Der Chef der AfD-Fraktion, Fabian Voss, sagte im Plenum, die Menschen fühlten sich in der Stadt nicht mehr sicher. Er forderte einen Kurswechsel in der Migrationspolitik und die Ausschaffung der Unruhestifter. Die Fraktion der Linkspartei verliess schon vorher aus Protest den Saal.

Sozialdezernent Stöcken will jetzt einige Dinge ändern. Man wolle prüfen, ob einzelne Familien anderswo untergebracht werden könnten. «Ich werde mich mit Energie dahinterklemmen, dass die Dinge dann auch tatsächlich passieren», sagte er. Für ihn ist vor allem Langeweile der Grund, warum manche Flüchtlinge sich so verhalten. «Wir werden dafür sorgen, dass mehr Angebote in die Einrichtungen kommen, damit jeder jeden Tag etwas zu tun hat.»

An diesem Tag liegt vor dem Museum gegenüber der alten Marineoffiziersschule kein Müll herum. Im Innenhof stehen drei Männer dicht zusammen und rauchen. Zwei Aufpasser in neongelben Warnwesten laufen im Torbogen auf und ab. «Die sind sonst nicht da», sagt Lietzow. «So aufgeräumt ist es erst seit den Zeitungsberichten.»

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