Montag, November 25

Der Onkel war der Chefrabbiner von Israel. Seit 38 Generationen bringt die Familie Rabbiner hervor. Aber Amichai Lau-Lavie legte sich mit den konservativen Verwandten an. Der Dokumentarfilm «Sabbath Queen» am Zurich Film Festival porträtiert einen Provokateur.

Den Grossvater ermordeten sie in Treblinka. Als Chefrabbiner der polnischen Stadt Petrikau hatte er sich selber zur Deportation gemeldet. Ein Hirte überlasse seine Herde nicht einem Rudel Wölfe, sagte er. Die Rabbinerdynastie aber müsse fortbestehen, die Kinder müssten überleben. So sprach der Grossvater. Dann ging er ins KZ.

Sein Enkel, Amichai, sagt: «Als Kind habe ich mir Gott immer wie den Grossvater vorgestellt.» Auf Amichai Lau-Lavie lastet viel Vergangenheit, der grösste Teil der Familie ist im Holocaust ausgelöscht worden. Knapp überlebt haben der Vater und dessen Bruder.

Der Vater ist ein Teenager, als er nach Buchenwald kommt. 1945 soll er von den Nazis an einen anderen Ort gebracht werden, doch er springt aus dem Zug. Zu Fuss geht er zurück zum Lager, weil er sich um seinen kleinen Bruder sorgt. Mehrere Tage ist er unterwegs. Vor dem Lager bricht er halb tot zusammen. In dem Moment kommen die Amerikaner.

Der Onkel ist ein Star-Rabbiner

Amichais Vater macht später in Israel als Diplomat Karriere, vertritt das Land als Generalkonsul in New York. Der Bruder des Vaters wird Chefrabbiner von Israel. Eine Berühmtheit. Er trifft den Papst, den Dalai Lama. Es gibt ein Foto von ihm mit der NBA-Legende Kareem Abdul-Jabbar.

Die Laus sind eine grosse israelische Familie: Seit Hunderten, wenn nicht Tausenden von Jahren bringt sie Rabbiner hervor. Wenn man sich in der Ahnenforschung nicht täuscht, ist man in der 38. Generation. Amichai Lau-Lavie wird 1969 in Israel geboren. Amichai heisst so viel wie: «Meine Nation lebt.»

Die Vergangenheit verpflichtet. Amichai soll Rabbiner werden, was sonst? Aber der junge Mann hat Orientierungsschwierigkeiten. Eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen fanatischen orthodoxen und sehr linken Juden an der Klagemauer in Jerusalem verstört ihn. Und er spürt eine weibliche Seite in sich, wie er sagt. Er ist schwul. Für die Eltern eine Katastrophe. Denn das heisst: keine Kinder.

Amichai, Ende zwanzig, zieht es nach New York. Ins Partyleben. Es ist nicht etwa so, dass er sich vom Judentum lossagt. Seine Geschichte, die der Dokumentarfilm «Sabbath Queen» am Zurich Film Festival erzählt, ist keine Deborah-Feldman-Geschichte. Kein «Unorthodox». Unorthodox ist einzig seine Art, sich gegen die Sitten aufzulehnen. Er lebt seine weibliche Seite in der Drag-Szene aus.

Pop-up-Synagoge für alle

«Erlösung kommt nur durch Transgression», sagt der Mann, der sich als Rebbetzin Hadassah Gross – eine osteuropäische Jüdin mit blonder Perücke – eine Kunstfigur schafft. Auftritte als die Rebbetzin sind ein Hit, Amichai wird durch die Medien gereicht. Er will die Aufmerksamkeit nutzen, hat Ideen: Im «Storahtelling» bringt er Theater und Thora zusammen. Dann «Lab/Shul»: eine experimentelle, spielerische Pop-up-Synagoge, die offen ist für alle. Auch für Nichtjuden.

Amichai führt interreligiöse Hochzeitsvorbereitungen durch. Denn er ist sich sicher: Nur indem sich das Judentum radikal öffnet, hat es eine Chance. Sonst sehe die Zukunft düster aus. In 30 Jahren, rechnet er vor, würden die Orthodoxen, die viele Kinder kriegen, in der Mehrheit sein. Aber ist eine identitätspolitische Freakshow, wie er sie veranstaltet, die Alternative?

Amichai Lau-Lavie hat ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Als Protagonist eines Dokumentarfilms, zu abendfüllendem Format verdichtet, ist er nicht ganz einfach zu ertragen. Aber die Auseinandersetzung mit ihm lohnt sich, weil es auch eine Auseinandersetzung darüber ist, was Israel und das Judentum fundamental ausmacht. Wenn man so will, steht Amichai sinnbildlich für Israel: In seiner Person prallen das Progressive und das Konservative aufeinander.

«Lab/Shul» reicht Amichai nämlich nicht. Er will richtige interreligiöse Hochzeiten durchführen, er will sozusagen den Koscher-Stempel. Er beginnt ein konservatives Rabbinerstudium in New York. Das «Virus im System» möchte er sein, wie er sagt. Als anerkannt konservativer Rabbiner könnte er Juden und Nichtjuden offiziell verheiraten. Von der Dragqueen zum Rabbi: Der Mann möchte das orthodoxe Judentum überlisten. Oder eher: es überlasten.

Verrat am Grossvater?

Amichai kämpft für das ultraliberale, regenbogenfarbene Israel. Aber er verkörpert auch das orthodoxe Israel ganz in Schwarz. Denn so sehr er dieses ablehnt, ablegen kann er es nicht. Das hat auch mit dem Grossvater zu tun. Der Holocaust hat die Juden gelehrt, dass sie sich nie auf andere verlassen können. Im 19. Jahrhundert hatten sich die Juden in Deutschland assimiliert bis zum Gehtnichtmehr, trotzdem oder gerade deswegen wurden sie verfolgt und umgebracht. Sich in der Diaspora nun bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen, hiesse, sich aufzugeben.

Israel ist und bleibt für einen Juden die Lebensversicherung. Amichai weiss das. Der jüdische Staat muss sich gegen seine Feinde verteidigen. Aber dafür muss er auch wissen, was er verteidigt. Das Judentum kann nicht alles und nichts sein. Doch darauf läuft es hinaus, wenn man Dragqueen und Rabbi unter einen Hut (beziehungsweise Schtreimel) zu bringen versucht. Manchmal, sagt Amichai Lau-Lavie, frage er sich, ob er seinen Grossvater verrate. Er stellt auf jeden Fall die richtigen Fragen.

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