Der Sport schöpft seine Faszination aus dem Kampf und dem Drama auf dem Platz. Das ist eines der Probleme von «Break Point». Für die zweite Staffel wurde ausgerechnet Alexander Zverev als potenzieller Quotenmacher auserkoren, der sich in letzter Zeit viele Ausrutscher leistete.
Vor einem Jahr machte in der Tennisszene am Australian Open ein neuer Ausdruck die Runde: der Netflix-Fluch. Er nahm Bezug auf eine Besonderheit, welche die Phantasie der Journalisten und der Spieler befeuerte. 2023 war in Melbourne bereits nach der ersten Woche kaum jemand mehr im Turnier, der in der ersten Staffel der Netflix-Serie «Break Point» eine Rolle gespielt hatte.
Netflix sah sich nun gewissermassen zu einer filmischen Gegendarstellung genötigt. Die erste Folge der zweiten Staffel, die seit letztem Mittwoch online ist, trägt den Titel «Der Fluch» und zeichnet die Geschichte der Weissrussin Aryna Sabalenka nach.
Offensichtlich trug sie sich mit dem einen oder anderen Zweifel, ob sie sich auf der Hatz nach dem ersten Grand-Slam-Titel von einer Kamera begleiten lassen soll. Ihr Fitnesstrainer Jason Stacy sagt zu Beginn der Dokumentation: «Bei einem Slam gibt es immer viele Ablenkungen. Man muss einen Weg finden, sich diesen zu entziehen.» Die ständige Begleitung durch eine Kamera ist dabei nicht unbedingt zielführend.
Sabalenka machte am Ende doch mit – und gewann das Australian Open prompt. Am Anfang des Filmes sagt sie, ihr Vater, ein ehemaliger Eishockeyspieler, sei von der Idee getrieben gewesen, dass sie vor ihrem 25. Geburtstag den ersten Major-Titel feiern könnte. Das gelang ihr schliesslich vier Monate vor dem Fest. Der Vater erlebte das nicht mehr. Er war im November 2019 im Alter von 43 Jahren überraschend verstorben. Das beschert dem Film einen tränenreichen Gänsehaut-Moment.
Selbst das zuweilen konservative SRF hat mit «The Pressure Game» das Genre für sich entdeckt
Sportdokumentationen leben von diesen persönlichen Szenen. Und das noch junge Genre erfreut sich immer grösserer Beliebtheit. Es begann mit «Drive to Survive», der Netflix-Produktion, die der Formel 1 während der Pandemie zu grosser Popularität verhalf und zum Vorbild für diverse Nachahmerprodukte wurde. Ähnlich Formate gibt es unterdessen über die Tour de France, den Basketballer Michael Jordan («The Last Dance») oder den Fussballer David Beckham.
In der Schweiz hat der Eishockey-Sender MySports mit Dokumentationen über die SCL Tigers oder den HC Ambri-Piotta Respekt und Profil erlangt. Und mittlerweile hat selbst das zuweilen konservative SRF mit «The Pressure Game», einem Mehrteiler aus dem Innern der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft, das Genre für sich entdeckt.
Die Essenz des Erfolges solcher Dokumentationen findet sich wahrscheinlich in der Aussage aus der zweiten Staffel von «Break Point» wieder: «Wir suchen immer nach Helden, hier werden Stars geboren.» Neben Sabalenka stehen im Fokus der Staffel der spanische Weltranglisten-Zweite Carlos Alcaraz und der Deutsche Alexander Zverev.
Wenn das Australian Open in Melbourne nun wieder beginnt, wird Alcaraz mutmasslich erneut zu den härtesten Herausforderern des Seriensiegers Novak Djokovic gehören. Bereits vom Turnier zurückgezogen haben sich der Berner Dominic Stricker, Rafael Nadal und der Australier Nick Kyrgios, der in der ersten Staffel von «Break Point» eine Hauptrolle spielte.
Inwieweit Zverev zum Sympathieträger und Quotenmacher für Netflix taugt, ist fraglich. Denn nach verschiedensten Ausrutschern auf und neben dem Tenniscourt ist das Image des Deutsch-Russen stark angeschlagen. Wegen der Vorwürfe der häuslichen Gewalt muss sich Zverev in Deutschland vor Gericht verantworten.
Filmstoff ist das allemal, für Spektakel ist gesorgt – und einer Fortsetzung der Netflix-Serie scheint nicht viel im Weg zu stehen. Doch «Break Point» braucht dringend mehr Aufmerksamkeit. Der Erfolg der aufwendig produzierten ersten Staffel blieb hinter den Erwartungen zurück.
Eine der Stärken solcher Dokumentationen wäre, dass sie immer wieder Details einfangen und dem breiten Publikum zugänglich machen, die diesem für gewöhnlich verborgen bleiben. Doch diesen Anspruch erfüllt «Break Point» bis jetzt nur unzulänglich. Vieles bleibt an der Oberfläche und voraussehbar. Aufmerksame Verfolger der Tennisszene erfahren kaum etwas, was ihnen nicht längst hinlänglich bekannt ist.
Das Format enthält in seiner ersten Staffel auch die eine oder andere Peinlichkeit, wie etwa einen Untertitel im Beitrag zur zurückgetretenen Serena Williams, wo ein Plakat eines Anhängers, auf dem sie als «Goat» – also als «greatest of all time» – bezeichnet wird, mit «die Ziege des Tenniszirkus» übersetzt wird.
Als Wawrinka dem noch nicht 20-jährigen Rune sagte, er solle sich nicht wie ein Kleinkind benehmen
Es gibt aber auch willentlich amüsante Szenen, wie etwa jene, als Stan Wawrinka dem Dänen Holger Rune im Herbst 2022 in Paris-Bercy den Rat gibt, sich doch auf dem Tennisplatz nicht wie ein Kleinkind zu benehmen. Der damals noch nicht 20-jährige Rune kontert die Rüge des Schweizers in der Dokumentation schlagfertig mit einem Lächeln. «Alte Leute geben jungen Ratschläge, so ist das Leben. Aber manchmal müssen alte Leute auch akzeptieren, dass junge sie herausfordern.»
Rune gehört zum erweiterten Kreis der Titelanwärter in Melbourne und wird bestimmt weiterhin für Schlagzeilen sorgen: auf Netflix und im echten Leben. Er hat das spielerische Potenzial, um auf der Männer-Tour grosse Titel zu gewinnen. Der Däne wird neu betreut von Boris Becker und Severin Lüthi, dem langjährigen Coach von Roger Federer. Lüthi sagte der NZZ kürzlich, nach Federers Rücktritt habe er sich eine Liste jener Spieler gemacht, mit denen ihn die Zusammenarbeit reizen würde. «Holger gehörte zu ihnen.»
Was also lehrt uns «Break Point»? Eine auch noch so professionell produzierte Sportdokumentation kann immer nur ein Abklatsch des Lebens bleiben. Der Sport schöpft seine Faszination nicht aus dem voyeuristischen Blick durchs Schlüsselloch, sondern aus dem Kampf und dem Drama auf dem Platz. Letztlich sind Sportdokumentationen nicht mehr als kostspielige Propaganda für Produkte, die Propaganda eigentlich gar nicht nötig haben und für sich sprechen. Novak Djokovic jedenfalls öffnete den Filmern seine Türen nicht. Er weiss: Nichts eignet sich besser für Werbung in eigener Sache als Siege.