Die derzeitige Diagnose von Fettleibigkeit steht seit längerem in der Kritik. Nun wurde die Methode erweitert. Aber über den Mehrwert für den medizinischen Alltag wird bereits gestritten.
«Wir brauchen ein neues Verständnis von Fettleibigkeit», sagt Francesco Rubino, Adipositaschirurg am King’s College Hospital in London. «Wir verwenden derzeit eine ungenaue Diagnose. Somit bekommen viele Menschen nicht die Behandlungen, die sie benötigen. Andere werden fälschlicherweise als krank eingestuft.» Rubino hat zusammen mit mehr als fünfzig Experten aus aller Welt am Dienstag in der Fachzeitschrift «The Lancet Diabetes and Endocrinology» neue Richtlinien vorgeschlagen.
Stefan Bornstein, Diabetologe am Universitätsklinikum Dresden und Mitglied der Lancet-Kommission, betont die Dringlichkeit: «Wir Ärzte und Ärztinnen werden überschwemmt mit Anfragen von Menschen, die schnellstmöglich und unaufwendig Gewicht reduzieren wollen mit den neuen Abnehmspritzen – eine bessere Diagnose für Fettleibigkeit ist also nötig.» Es fehle eine Vorgabe für eine evidenzbasierte und medizinisch seriöse Entscheidung, wer die teuren, aber wirksamen Medikamente wie Ozempic oder Wegovy erhalten solle.
Unbestritten ist, dass ein Übermass an Fettgewebe im Körper zu einer ganzen Reihe von Schäden an Organen, beispielsweise der Lunge, dem Herzen, dem Gehirn, der Niere oder der Leber, führen kann. Zudem werden Muskeln und Gelenke geschädigt, oder es entwickeln sich chronische Entzündungen.
Der Body-Mass-Index ist als Diagnosekriterium unzureichend
Das Problem ist jedoch, dass die Diagnose Fettleibigkeit bis jetzt auf der Bestimmung des sogenannten Body-Mass-Index (BMI) beruht. Den BMI erhält man, indem man sein Gewicht in Kilogramm durch seine Körpergrösse in Metern zum Quadrat teilt (BMI = Körpergewicht : Körpergrösse2). Somit weist eine 75 Kilogramm schwere Person mit einer Körpergrösse von 1,75 einen BMI von 24,5 auf. Sie ist somit gerade noch normalgewichtig. Gemäss den derzeit gängigen Vorgaben gilt eine Person ab einem BMI von 30 als fettleibig.
Doch der BMI sagt weder etwas aus über «gute» Muskel- und «schlechte» Fettmasse noch über den tatsächlichen Zustand des Körpers. Die Lancet-Kommission fordert daher, den BMI nur als einen ersten Hinweis auf Fettleibigkeit anzusehen. Sie trägt damit der seit Jahren anhaltenden Debatte um den BMI als Diagnosekriterium Rechnung.
Die Fachgruppe fordert stattdessen ein mehrstufiges Vorgehen zur Diagnose von Adipositas. Zuerst müsse das Ausmass der überschüssigen Fettmasse mithilfe von zwei Körpermessungen wie dem Hüftumfang oder dem Verhältnis der Taille zur Hüfte beziehungsweise der Taille zur Körpergrösse bestimmt werden. Im Idealfall würde die Fettmasse mit einem Röntgenverfahren wie Dexa bestimmt, das sowohl Fett- als auch Muskelmasse sowie Knochendichte misst.
Des Weiteren müsse untersucht werden, ob die Person irgendwelche Schäden in Organen aufweise. Das kann durch Blutanalysen, Lungenfunktionstest oder EKG bestimmt werden. Zudem sollten Ärzte erfragen, ob bereits normale Alltagsaktivitäten wie Treppensteigen oder Körperpflege Probleme bereiten.
Das alles ist natürlich aufwendiger und kostet somit in der Praxis mehr Zeit – und damit auch Geld – als eine BMI-Berechnung. Rubino entgegnet, dass all diese medizinischen Tests in der Regel ohnehin durchgeführt würden oder werden sollten, wenn eine Person mit Beschwerden und sichtbarem Übergewicht zum Arzt komme.
Schon echt krank oder noch Risikopatient?
Als fettleibig und damit krank gilt gemäss den neuen Richtlinien eine Person, wenn sie erstens zu viel Fettgewebe mit sich herumschleppt und zweitens Funktionsstörungen in mindestens einem Organ hat oder im Alltag eingeschränkt ist. Alle Betroffenen sollten bestmöglich mit Medikamenten oder auch chirurgisch therapiert werden.
Nicht unbedingt sofort behandelt werden müssen hingegen die Risikopatienten. Gemeint sind Personen, die bereits übermässiges Fett angesammelt, aber noch keinerlei Organstörungen entwickelt haben. Sie haben also Fett im Bauchraum, aber ihre Leber arbeitet ganz normal, sie haben dicke Arme und Beine, aber keine Gelenkschmerzen und können ohne Atemnot Sport treiben.
Aber wegen ihrer Fettmasse besitzen sie ein erhöhtes Risiko für Organschäden. Wann diese eintreten, hängt von vielen Faktoren wie der Familiengeschichte und damit der Genetik, der Vorerkrankungen, der Lage des Fettgewebes, dem Fitnessgrad oder dem Lebensstil ab. Laut der Lancet-Kommission muss bei diesen präklinisch adipösen Personen das individuelle Risiko abgeschätzt werden. Dementsprechend müssen sie regelmässig zu Kontrolluntersuchungen, gegebenenfalls den Lebensstil ändern oder bei einem hohen Risiko auch eine medikamentöse Therapie ins Auge fassen.
Vorerst ist das neue Diagnoseverfahren ein Expertenvorschlag. Es bleibt abzuwarten, ob nationale Fachgesellschaften es in ihre Behandlungsleitlinien aufnehmen. «Ich als Arzt habe mit dieser neuen Definition nun bessere Argumente, wer die begehrte Abnehmspritze erhalten soll und wer nicht», sagt Bornstein.
Nicht an der Kommission beteiligte Experten widersprechen hingegen. Sie halten die Vorgaben für schwer umsetzbar und auch nicht präziser als das derzeitige Vorgehen. Schliesslich würden verantwortungsbewusste Ärztinnen und Ärzte das Rezept für die Abnehmspritzen nicht allein vom BMI abhängig machen.
Manche befürchten sogar, dass Kinder, die übergewichtig sind, aber noch keine Organschäden aufweisen, seltener Therapien bezahlt bekommen könnten, wenn die neuen Richtlinien befolgt würden. «Ich habe fast noch nie ein stark übergewichtiges Kind ohne irgendein gesundheitliches Problem erlebt», sagt Nathalie Farpour-Lambert, Spezialistin für Adipositas bei Kindern und Jugendlichen am Universitätsspital Genf und Teil der Lancet-Kommission.
Viel zu wenige kranke Übergewichtige erhalten Medikamente
Für Matthias Blüher, Adipositas-Experte am Universitätsklinikum Leipzig und ebenfalls Mitglied der Kommission, ist derzeit die Unterversorgung sehr vieler kranker Fettleibiger jeden Alters das grosse Problem. Schätzungsweise weniger als fünf Prozent der Erwachsenen mit Übergewicht, die bereits echt krank sind, erhielten in Deutschland die Abnehmspritzen, sagt er. In anderen Ländern sei es ähnlich.
Zum einen gebe es derzeit wegen des weltweiten Booms als Lifestyle-Produkt und der immensen Anzahl an Übergewichtigen zu wenig Medikamente. Zum anderen könnten sich viele Menschen, die die Spritzen wirklich benötigten, diese nicht leisten, weil Krankenkassen sie derzeit nur in manchen Fällen bezahlten. Man könne nur hoffen, dass die neuen Richtlinien dazu beitrügen, dass Krankenkassen öfter die Kosten übernähmen. Derzeit sind das zwischen 170 und 300 Euro beziehungsweise Franken im Monat. Gemäss den momentanen Erkenntnissen müssen die Mittel lebenslang verabreicht werden.
«Ich hoffe sehr, dass die neuen Richtlinien auch eine Debatte über Fettleibigkeit weit über die Fachkreise hinaus auslösen», sagt der Leipziger Mediziner Blüher. Alle, also Mediziner, Politiker und die Bevölkerung, müssten erstens viel mehr für die Prävention tun und sich hier neue Wege überlegen. Zweitens müssten die Menschen begreifen, dass Übergewicht ernsthaft krank machen könne und Betroffene nicht erst dann medizinischen Rat anfragen sollten, wenn sie bereits Gesundheitsprobleme spürten.