Sonntag, Oktober 27

Für Pestizidrückstände auf Schnittblumen gibt es keine gesetzlichen Höchstwerte. Ob das die Arbeit mit ihnen für Schwangere gefährlich macht, ist bisher nicht zweifelsfrei bestätigt. Nun hat eine Mutter aus Frankreich trotzdem eine Entschädigung erhalten.

Die alleinstehende Nachbarin hat das Bein gebrochen? Gute Besserung – und hier ist ein Blumenstrauss als Farbtupfer fürs Spitalzimmer. Die Kollegin hat gerade ein Kind bekommen? Glückwunsch – und der Blumenstrauss kommt mit der Post.

Schnittblumen machen vielen Menschen Freude. Ein Fall aus Frankreich macht jetzt deutlich, dass sie aber – bedingt durch ihre Produktion – nicht nur positive Eigenschaften haben. Eine Behörde hat einer Frau eine Entschädigung zugesprochen, weil deren Kind an Leukämie gestorben ist – verursacht durch Schnittblumen.

Publik gemacht wurde ihre Geschichte durch eine gemeinsame Recherche des staatlichen französischen Rundfunksenders Radio France und der Tageszeitung «Le Monde». Die Frau arbeitete demnach jahrelang bei einem Blumenimporteur und packte jeden Tag Lieferungen aus, auch während ihrer zweiten Schwangerschaft. Der Fötus nahm nach Aussage der Mutter nur wenig an Gewicht zu, nach der Geburt sei die Plazenta schwarz gewesen; eine Hebamme habe die Mutter gefragt, ob sie Drogen genommen habe. Im Alter von drei Jahren wurde bei dem Kind eine akute lymphatische Leukämie (ALL) diagnostiziert. Trotz Chemotherapie starb das Mädchen sieben Jahre später.

Erst im Nachhinein fand die Mutter heraus, dass die Blumen, mit denen sie jeden Tag zu tun hatte, mit Dutzenden Pestiziden belastet sind. Sie reichte ihren Fall beim Entschädigungsfonds für Pestizidopfer ein. Die Entscheidung des aus Wissenschaftern und Medizinern bestehenden Gremiums war laut dem Bericht einstimmig: Es bestehe ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Tod des Kindes und der Beschäftigung der Mutter als Floristin.

Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Pestiziden und Leukämie ist schwer zu belegen

Bei Leukämien vermehren sich die Vorläuferzellen der weissen Blutkörperchen unkontrolliert und verdrängen andere, gesunde Blutbestandteile. Je nachdem, aus welcher Untergruppe der weissen Blutkörperchen sich die krankhaften Zellen entwickelt haben, unterscheidet man zwischen myeloischen Leukämien – aus dem Rückenmark – und lymphatischen Leukämien aus dem Lymphsystem.

Die akute lymphatische Leukämie kann in jedem Alter auftreten, allerdings ist sie bei Kindern bis fünf Jahre viel häufiger als in den anderen Altersgruppen: Etwa fünf von 100 000 Kindern sind betroffen. 90 Prozent von ihnen können inzwischen dank Chemotherapie geheilt werden, wenn auch oft mit Spätfolgen.

Das Erbgut der Zellen verändert sich oft bereits im Mutterleib, also während der Schwangerschaft. Welche Ursachen das hat, ist jedoch noch weitgehend unbekannt.

Einer der potenziellen Verursacher der Krankheit sind Pestizide, denen die Mutter ausgesetzt ist; Epidemiologen bezeichnen dieses unmittelbare Ausgesetztsein gegenüber gefährdenden Bedingungen als Exposition. Obwohl zum Zusammenhang von Pestizidexposition und Leukämie besonders viel geforscht wird, ist die Beweislage nicht eindeutig.

«Epidemiologische Studien zeigen eine ziemlich starke Verbindung zwischen der beruflichen Exposition der Mutter während der Schwangerschaft und/oder des ersten Lebensjahrs und dem Auftreten einer ALL beim Kind», erklärt Aurélie Berthet, die die Abteilung Umweltmedizin an der Universität Lausanne leitet. «Aber es ist sehr schwierig, einen klaren Zusammenhang zwischen Pestizidexposition und dem Krebs zu etablieren. Soviel ich weiss, zeigt keine der Studien eindeutig eine kausale Verbindung.»

Auch Ben Spycher, Spezialist an der Universität Bern für Umweltexpositionen und Krebserkrankungen bei Kindern, sagt: «Es ist kaum möglich, im Einzelfall auf eine Umweltursache für eine Krebserkrankung bei Kindern zu schliessen. Solche Zusammenhänge werden vermutet und epidemiologisch untersucht, aber die Evidenzlage ist noch nicht klar.»

Für Pestizide auf Schnittblumen gibt es keine gesetzlichen Höchstwerte

Dass Schnittblumen stark mit Pestiziden belastet sind, ist hingegen kaum bestritten. Anders als bei Obst und Gemüse gibt es weder in der Europäischen Union noch in der Schweiz gesetzliche Regelungen zu Pestizidrückständen in Schnittblumen.

Die meisten Schnittblumen werden aus dem nichteuropäischen Ausland importiert. «Dort kommen auch Pestizide, vor allem Insektizide und Fungizide, zum Einsatz, die in Europa und der Schweiz verboten sind», sagt Berthet.

Eine Analyse im Auftrag der österreichischen Umweltschutzorganisation Global 2000 stellte an 97 Prozent der in Österreich und Deutschland gekauften Exemplare Rückstände von Pestiziden fest, in 72 Prozent waren es solche, die als für den Menschen gesundheitsschädlich eingestuft sind.

Hygienemassnahmen sollen das Risiko für Floristen verringern

Die Frage ist, wie viel dieser Pestizide über die Haut oder die Atmung in den Körper der Menschen gelangt, die mit den Blumen hantieren. «Bei Floristen ist die Dosis wahrscheinlich eher gering», sagt Berthet. «Allerdings sind sie ihr fünf oder sechs Tage pro Woche ausgesetzt, erhalten also chronisch eine niedrige Dosis von Pestiziden.»

Eine Studie aus Belgien fand im Urin von Floristen erhöhte Mengen von Wirkstoffen aus Pestiziden; das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) bemängelt in einer Stellungnahme jedoch die Methodik der Untersuchung.

Das BfR bestreitet nicht, dass die Blumen zu einem gewissen Grad belastet sind – dies stelle aber kein Risiko dar, wenn Handschuhe getragen würden und Arbeit und Essen getrennt würden. Solche Hygienemassnahmen seien selbstverständlich.

Der Schweizer Floristenverband schreibt auf Anfrage, bereits seit 2012 gebe es zum Thema Hautschutz und Pestizide ein zusammen mit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften entwickeltes Merkblatt. Verbandsmitglieder würden in regelmässigen Abständen darauf hingewiesen, dass Schnittblumen Pestizide enthalten könnten und wie sie fachgerecht damit umgehen könnten. Auch aufgrund des konkreten Falls in Frankreich sei das noch einmal geschehen.

Vom Blumenstrauss zu Hause auf dem Tisch geht kein Risiko aus – jedenfalls nicht für die, die ihn nur in die Vase stellen. Für diejenigen, die die Blumen anbauen, und diejenigen, die sie zum Strauss zusammenstellen, sieht es etwas anders aus.

Ein Artikel aus der «»

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