Sonntag, September 8

Wie soll die Kesb umgehen mit schweren Fällen häuslicher Gewalt? Ein Fall aus Winterthur wirft grundlegende Fragen auf.

Er kam aus Serbien in die Schweiz, um den Plan seines Opfers zu vereiteln, mit Gewalt. Sie wollte sich und ihre Kinder vor seiner Familie schützen. Sie wollte, dass die Kinder in der Schweiz aufwachsen und nicht im Umfeld ihres Partners, in dem es – wie sie der Polizei zu Protokoll gab – regelmässig zu häuslicher Gewalt gekommen sei.

Am Ende aber war die 32-jährige Frau tot. Und die Kinder leben seither nicht mehr in der Schweiz, sondern in Serbien – bei der Familie des Täters. Dieser hat damit sein wohl perfidestes Ziel erreicht.

«Die Kinder haben nicht nur ihre Mutter verloren, sondern auch ihr Leben in der Schweiz und die Verbindung zum Schweizer Teil ihrer Familie», sagte die Rechtsbeiständin der Kinder, als der Mordfall vor Gericht verhandelt wurde. Und der Anwalt der Opferfamilie ergänzte: «Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde hat die Kinder an die Täterfamilie gegeben.»

Und so ziemlich jeder Beobachter im Saal fragte sich: Wie ist das möglich?

Diese Frage führt zu einem Grunddilemma in der Arbeit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb), zu den Grenzen des Opferschutzes – und zu den dramatischen Folgen, die häusliche Gewalt für ganze Familien haben kann.

Der Fall

Der Fall sorgte landesweit für Schlagzeilen: Eine 32-jährige Frau wurde in Winterthur brutal ermordet. Vom Grossvater ihres Mannes – weil sie die Scheidung wollte.

Nachdem sie mit ihren Kindern aus Serbien in die Schweiz geflohen war, zeigte sie ihren Mann bei der Stadtpolizei Winterthur an und sagte aus, er habe sie bedroht und regelmässig geschlagen. Gegenüber einem Polizisten sprach er daraufhin eine unverhohlene Drohung an ihre Adresse aus.

In die Schweiz einreisen durfte der Mann nicht. Wegen früherer Delikte hatte das Staatssekretariat für Migration (SEM) eine Einreisesperre gegen ihn verfügt. Diese liess die Stadtpolizei Winterthur wegen seiner Drohungen verlängern, wie die Behörde auf Anfrage schreibt.

Zum Schutz der Frau reichte das am Ende nicht. Der heute 79-jährige Grossvater ihres Mannes ermordete sie brutal mit sechs Schüssen und wurde für eine «eigentliche Hinrichtung» zu 20 Jahren hinter Gittern verurteilt.

Er habe nichts vom Plan seines Grossvaters gewusst, sei schockiert darüber und werde nie mehr mit ihm sprechen, verkündete der Ehemann schon kurz nach der Tat gegenüber «20 Minuten». Die Familie des Opfers vermutet dagegen, dass der Mann Bescheid gewusst, ja die Mordabsicht gar geschürt habe. Dahingehend äusserte sich ihr Anwalt vor Gericht. Er forderte im Namen seiner Mandantinnen und Mandanten, dass auch dem Ehemann der Prozess gemacht werde.

Die Zürcher Staatsanwaltschaft ist zurückhaltender. Sie hat zwar ein Verfahren wegen des Verdachts auf Anstiftung zu Mord und wegen Drohung eröffnet, wie sie auf Anfrage erklärt. Das Verfahren ist jedoch sistiert, weil das Urteil im Mordprozess noch nicht rechtskräftig ist und der Verdächtige sich im Ausland befindet.

An Letzterem wird sich so bald auch nichts ändern. Denn: Die Einreisesperre gegen den Mann besteht laut den Behörden immer noch.

Kurz: Es ist alles andere als sicher, dass es je zu einer Anklage kommen wird. In jedem Fall gilt die Unschuldsvermutung.

Das Dilemma

Nach der Tat ihres Urgrossvaters stehen drei Kinder ohne Mutter da. Eines der Kinder – gerade 19 Monate alt – musste den Mord mit ansehen. Als eine Nachbarin das Kind nach der Tat fand, stand es neben der Leiche seiner Mutter und weinte.

Notfallmässig kam das Kind in behördliche Obhut. Die Stadtpolizei Winterthur schreibt, man habe es «umgehend an einem sicheren Ort untergebracht». Auch die Kantonspolizei wurde eingeschaltet: Sie leitete gemäss eigenen Angaben Schutzmassnahmen für das Kleinkind ein, zusammen mit der zuständigen Kesb Winterthur-Andelfingen.

Diese musste daraufhin eine schwierige Entscheidung treffen: Was sollte mit dem Kind geschehen?

Die Kesb ist jene Behörde, die in der Schweiz Entscheide fällen muss, die niemand fällen will, aber jemand fällen muss. Etwa wenn Eltern und Familien daran gescheitert sind, im Interesse eines Kindes zu handeln.

In diesem Fall stand die Kesb vor einem Dilemma.

Da war zum einen der Anspruch des Vaters: Er wurde durch den Tod der Mutter der alleinige Sorgeberechtigte – ein Recht, für dessen Aberkennung es gewichtige Gründe braucht. Da war ausserdem die Tatsache, dass die zwei Geschwister des Kindes zum Tatzeitpunkt beim Vater waren. Sie wollten ihn unbedingt in Serbien besuchen – und die Mutter hatte es erlaubt. Ein Kind von seinen Geschwistern zu trennen, ist eine einschneidende Massnahme; auch dafür braucht es gute Gründe.

Auf der anderen Seite standen die Tötung, der ungeklärte Vorwurf der Anstiftung durch den Vater und die aktenkundigen Anschuldigungen der Mutter bezüglich häuslicher Gewalt.

Unter Letztgenannter leiden in betroffenen Familien alle: nicht nur die Direktbetroffenen, sondern auch die Kinder. Sie geraten in unmögliche Loyalitätskonflikte. Sie machen sich selbst Vorwürfe, werden womöglich von den streitenden Eltern instrumentalisiert. Oder sie versuchen zu vermitteln und geraten dann zwischen die Fronten.

Umso genauer muss die Kesb hinschauen, sobald Gewaltvorwürfe im Spiel sind.

Ob und wie die Kinder in diesem Fall von Gewalt betroffen waren, ist nicht bekannt. Klar ist dagegen: Der Entscheid der Kesb lässt sich kaum rückgängig machen. Denn ist ein Kind erst einmal beim Vater in Serbien, dann bleibt es ziemlich sicher dort. Eine Rückholaktion wäre kaum zu bewerkstelligen.

Der Entscheid

Karin Fischer, die Präsidentin der Kesb Winterthur-Andelfingen, darf sich aufgrund des Amtsgeheimnisses nicht zu Einzelfällen äussern, auch zu diesem nicht.

Wie genau es kam, dass am Ende alle drei Kinder des Mordopfers beim Vater landeten, und wie insbesondere das jüngste aus der Obhut der Schweizer Behörden zurück nach Serbien kam – das muss daher offenbleiben. Zum Schutz der Kinder und ihrer Privatsphäre sind Kindesschutz-Verfahren – wie familienrechtliche Verfahren insgesamt – nicht öffentlich. Aus konkreten Verfahren zu berichten, kann für Kesb-Angestellte strafrechtliche Folgen haben.

Allgemein hält Fischer aber fest: «Kindesschutz-Verfahren laufen für alle Verfahrensbeteiligten nach rechtsstaatlichen Grundsätzen ab.» Das heisst für komplexe Fälle wie jenen von Winterthur: Alle Beteiligten werden angehört, das Kind erhält eine eigene Vertreterin, eine sogenannte Kinderanwältin. Allenfalls gibt es Abklärungen durch Sozialdienste und Psychologen. Und jeder Entscheid kann durch mehrere Gerichtsinstanzen bis vor Bundesgericht angefochten werden.

Die Kesb müsse sich stets an den Interessen und Bedürfnissen der betroffenen Kinder orientieren, sagt Fischer. Konflikte nach einer Trennung der Eltern, häusliche Gewalt und oft beides gleichzeitig: Das seien Themen, mit denen sich die Kesb häufig beschäftigen müsse. Mittendrin in diesen Konflikten befänden sich jeweils die Kinder.

«Familiensysteme haben oft die Optik: Das Kind gehört jemandem, das ist ‹unser Kind›», sagt Fischer. «Aber wir sind nicht dazu da, das Kind zu teilen wie König Salomon in der berühmten Fabel. Wir müssen schauen, was dem Bedürfnis des Kindes am meisten entspricht.»

Die Kesb gehe dabei stets auf die Wünsche und die Bedürfnisse der Kinder ein und suche das Gespräch mit den Familien. «Unser Ansatz bei häuslicher Gewalt ist: den Eltern klarmachen, dass die Gewalt aufhören muss.»

Eine Frage, die der Winterthurer Fall aufwirft, ist: Wie lässt sich das bewerkstelligen, wenn ein Elternteil Opfer eines Gewaltverbrechens wurde – und der andere verdächtigt wird, daran beteiligt gewesen zu sein?

Standard wäre in solchen Fällen eigentlich die Teilnahme an einem Lernprogramm zu häuslicher Gewalt. Die Staatsanwaltschaft kann diese im Rahmen eines Strafverfahrens verfügen, was in diesem Fall allerdings ausblieb. Als Grund nennt die Staatsanwaltschaft den ausländischen Wohnort des Beschuldigten. Bei einer solchen Massnahme muss der Betroffene nämlich zunächst angehört werden. Das war jedoch nicht möglich, weil er sich in Serbien befand.

Für die Kesb bedeutete das: Sie musste das Sorgerecht eines Mannes evaluieren, der weder zu einem Lernprogramm verpflichtet werden konnte noch überhaupt in die Schweiz einreisen durfte.

Die Kesb muss sich dabei an ein enges Regelkorsett halten. Denn: Der Gesetzgeber hat die Hürde für das Eingreifen der Kesb absichtlich hoch gesetzt. Die Zeiten, als Vormundschaftsbehörden Kinder willkürlich fremdplatzieren konnten, sind vorbei. Kinder haben Wünsche. Eltern haben Rechte. Und Vorwürfe wegen Schlägen und Drohungen sind nicht dasselbe wie eine Verurteilung.

Die Gewalt

Besonders schwierig ist die Arbeit der Kesb im Kontext häuslicher Gewalt. Das Dunkelfeld sei dort gross, sagt Beat Reichlin. Häusliche Gewalt finde meist im Verborgenen statt, und Stellen wie die Kesb müssten oft entscheiden, bevor eine Faktenlage endgültig geklärt sei.

Reichlin ist Dozent an der Hochschule Luzern und leitet das dortige Kompetenzzentrum Kindes- und Erwachsenenschutz. Zum Umgang mit häuslicher Gewalt hat er einen Leitfaden erarbeitet, der national und auch in der Kesb Winterthur-Andelfingen zur Anwendung kommt. Reichlin und seine Mitautorin Paula Krüger plädieren darin für ein klares Vorgehen. Erstens: abklären, von wem die häusliche Gewalt kommt. Zweitens: den Kontakt zwischen Kind und Gewalt ausübendem Elternteil unterbinden – bis dieser Einsicht und Bereitschaft zur Veränderung zeigt. Drittens: den Kontakt langsam und begleitet wieder aufbauen, möglichst in einem kontrollierten Setting.

«Im Kindesschutz wollen wir die Eltern nicht bestrafen, sondern sie in ihrer Rolle bestärken», sagt Reichlin. Gerade dabei sei es jedoch kontraproduktiv, wenn der Kontakt zu einem gewalttätigen Elternteil wieder ermöglicht werde, ohne dass dieser seine Rolle überdacht und verändert habe. Der Experte kritisiert in diesem Kontext, dass im Kanton Zürich nur die Staatsanwaltschaft die Teilnahme an den vom Justizvollzug organisierten Lernprogrammen zu häuslicher Gewalt anordnen darf, nicht aber die Kesb.

In Fällen häuslicher Gewalt sind die Aussagen laut Reichlin oft widersprüchlich. Gerade bei Kindern komme es häufig zu paradoxen Positionsbezügen: «Sie wollen trotz Gewalterfahrungen zu dem entsprechenden Elternteil. Manchmal finden die Kinder sogar: ‹Ich bin schuld an der Situation.› Da muss man genau überprüfen, was hinter solchen Aussagen steht.»

Es sei die Aufgabe der Kesb und der Kinderanwälte, solche Wünsche auch kritisch zu hinterfragen.

Für Reichlin ist ausserdem klar: Habe ein Entscheid weitreichende Folgen – etwa einen Umzug ins Ausland, wo die Kesb keine Handhabe mehr hat –, so sei äusserste Sorgfalt angezeigt. «Das Kindeswohl muss immer die oberste Maxime sein.» Dieses solle jedoch weniger an kurzfristigen Wünschen als stärker an langfristigen Entwicklungschancen gemessen werden.

Für den Winterthurer Fall werfen diese Überlegungen Fragen auf: Wie wurde das Prinzip «Kontakt erst nach Besserung und Einsicht» umgesetzt? Wurde beim Kindeswohl die langfristige Perspektive eingenommen und priorisiert?

Und: Wie kann ein Kind, das in der Schweiz in behördlicher Obhut ist, wieder beim Vater landen, wenn dieser wegen einer Einreisesperre gar nicht in die Schweiz kommen darf?

Diese Fragen bleiben vorderhand unbeantwortet. Klar ist: Die Kesb – aufgrund ihrer schwierigen Aufgabe unter ständiger Beobachtung – wird sich die Entscheidung nicht leichtgemacht haben. Klar ist aber auch: Der Urgrossvater der Kinder – der Mörder ihrer Mutter – hat eines seiner Ziele erreicht.

Er wird wohl den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen und muss seinen drei Urenkeln insgesamt 215 000 Franken Genugtuung bezahlen. Doch sollte er das Geld je zusammenbekommen, dann wird es nach Serbien fliessen, zurück zu seiner Familie.

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