Im Restaurant beglücken wir wildfremde Menschen mit ein paar Extrafranken. Das richtige Mass zu finden, ist eine Kunst für sich.
Trinkgeld zu geben, ist ein eigenartiges Ritual. Da versuchen wir ein Leben lang, unser Geld zu vermehren und es klug einzusetzen, indem wir in Aktien investieren, zu einer günstigeren Krankenkasse wechseln und 2-für-1-Aktionen kaufen. Und dann geben wir Trinkgeld – Geld also, das wir niemandem schulden. Wir lassen zwei, fünf, zehn Franken auf dem Tresen liegen. Tag für Tag, ein Geschenk an einen Wildfremden.
Kein Wunder, tut sich vor allem die klassische Wirtschaftstheorie schwer damit, das Phänomen zu erklären. Ein Homo oeconomicus würde nie Trinkgeld geben – es bringt ihm keinen unmittelbaren Nutzen. Was also bewegt uns? Ist es das Bedürfnis, unser Selbstbild zu pflegen? Trinkgeld ist so gesehen eine egoistische Grosszügigkeit. Wir sagen Danke für eine Dienstleistung und belohnen uns dafür mit Karma-Punkten und einem Dopamin-Kick.
Die Digitalisierung ändert alles
Doch wie kompliziert ist es geworden! Früher schob man einfach ein paar Münzen oder eine Note ins Lederetui der Rechnung. Eine diskrete Geste. Heute geben wir Trinkgeld oft digital – an einem Bildschirm, gut beleuchtet und für alle rundherum sichtbar: 10, 15, 20 Prozent, wie viel dürfen es denn sein? Mit der Servicekraft vor und anderen Gästen hinter uns tippen wir verlegen schnell auf ein Feld, meist ohne über die erbrachte Serviceleistung nachgedacht zu haben.
Aber war die ursprüngliche Idee von Trinkgeld nicht gerade, sich für eine Dienstleistung zu bedanken? Die Digitalisierung hat dieses Verhältnis verändert, und nun scheint gar nichts mehr sicher zu sein. Wieso werde ich um Trinkgeld gebeten, wenn das Café eigentlich mit Selbstbedienung ist? Darf ich am Bildschirm auf «Kein Trinkgeld» tippen, wenn mir die Servicekraft dabei zuschaut? Gebe ich dem Fahrer des Lieferservice ein Trinkgeld? Ist das dann abhängig vom Wetter, von der Bestellmenge oder von der Distanz, die er bis zu meiner Wohnung zurücklegen muss? Kann er das Trinkgeld überhaupt behalten? Darf ich ihn das fragen?
1974 wurde das Trinkgeld abgeschafft – eigentlich
In der Schweiz muss niemand Trinkgeld geben, der das nicht will. Das Gastgewerbe hat seit 1974 eine Vereinbarung, wonach der Service im Preis einer Ware inbegriffen sein muss. Wer aber, wie die meisten Menschen, an der Geste festhalten will, der kann sich an den berühmten zehn Prozent orientieren. Allerdings muss das nicht so genau genommen werden. Macht der Betrag 65 Franken, rundet man auf 70 auf. Bei digitalem Trinkgeld passen zehn Prozent meistens auch, aufrunden geht nur bei frei wählbaren Beträgen. Wer nicht digital bezahlen will und auch nicht genügend Kleingeld bei sich hat, lässt es am besten ganz bleiben. Ein Fünfräppler ist kein Trinkgeld, er ist eine Beleidigung.
Wichtiger als der genaue Betrag ist die Geste an sich. Der Historiker Winfried Speitkamp schreibt in seiner «Kleinen Geschichte des Trinkgelds», dass Trinkgeld in unserer durchrationalisierten Moderne einen Fremdkörper darstelle: Für einen flüchtigen Moment verbindet es zwei Fremde durch einen mehrdeutigen Akt. Dafür lohnt es sich, ein paar Franken zu hinterlassen. Auch wenn danach noch viele Fragen offenbleiben.
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