Montag, November 25

Ob Stine Pilgaard «Dänemarks erfolgreichste Autorin» ist, wie der Verlag sie bewirbt, wissen wir nicht. Aber keine nimmt so scharf und so amüsant das zwischenmenschliche Verhalten aufs Korn wie sie. Ihr jüngster Roman erweist sich als «ein kleines Meer von Anekdoten».

Weil sie nicht kochen kann, schreibt sie zum Hoffest ein Lied. Damit fängt ihre Karriere als Gelegenheitsliedermacherin an, alle im Haus wollen jetzt von ihr ein Lied: über Ferien und Haustiere, für Hochzeiten, Geburtstage, Konfirmationen; «still und leise wurde ich eine Firma».

Zwei junge Leute in Aarhus, nämlich diese namenlose Ich-Erzählerin, die davon träumt, Schriftstellerin zu werden, sich aber mit Horoskopen durchschlägt und jetzt Gelegenheitslieder texten muss, sowie ein geschlechts-, fast wesenloses «du» – zwei junge Leute finden endlich eine eigene Wohnung. Aber Vorsicht: Ihre Hausgemeinschaft nimmt den Begriff «Gemeinschaft» sehr ernst. Obwohl doch alle total verschieden sind.

Radikal antiideologisch

Da ist Mie, die Vorsitzende der Wohnungsgenossenschaft, die dem chaotischen Zusammenleben eine gewisse Form zu geben versucht. Oder die cholerische Elizabeth, die den Schmerz über ihren im Koma liegenden Mann mit Rauchen und Trinken lindert. Oder Lisa, die alles durch die Brille isländischer Sagas sieht. Oder Lotte, die politisch korrekte und aspergerhafte Weltverbesserin, eine Art Prä-Greta: «Grauzonen sagen ihr nichts.»

Oder Ruth, die schwerhörige Rollatorfahrerin, und die 82-Jährige, die alle nur «Oma» nennen. Die beiden kennen sich noch vom Lande, als sie 17 waren, seitdem sind sie ein Paar. Mit zeitlichen Unterbrechungen, Ruth heiratete und bekam Kinder, «Oma» musste zu Hause Kühe melken, sie hasst sie seitdem wie die Pest. Das hätte ein lesbisches Rührstück werden können. Aber nicht mit Pilgaard, sie nimmt es, wie es ist, ohne daraus eine sakrosankte Sache zu machen.

Trotz aller Exzentrik der Figuren (oft sind sie nah an der Karikatur wie schon in ihrem letzten Roman, «Meine Mutter sagt») huldigt Stine Pilgaard dem Alltag und feiert die kleinen Dinge.

Das Buch wurde auf Dänisch vor zehn Jahren geschrieben, seitdem ist viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen. Aber wir lesen es jetzt, und jetzt ist es eine Art Gegenbuch, weil es radikal antiideologisch ist. Ihre Figuren sind mit sich «identisch», verheddern sich aber nicht in identitätspolitischem Leerlauf. Gestelztes Gerede über das, was wir dürfen und was wir nicht dürfen, wird ironisch belächelt. Und statt auf grassierender Untergangs- und Katastrophenstimmung besteht Pilgaard auf der Lust am Dasein. Ungeniert schreibt sie gegen ein verblüffendes Phänomen von heute an: dass Gegenkultur zum Mainstream wird.

Perfektes Sprachgefühl

In den Text sind in regelmässigen Abständen zwölf passende wie eigensinnige Horoskope eingestreut (die auf die folgenden Kapitel vorbereiten) sowie 24 «Lieder» in Prosa (die eigentlichen Gelegenheitslieder enthält sie uns vor), die mehr über die Erzählerin verraten als über ihre Mitbewohner. Und nicht der Handlungsverlauf, den es strenggenommen nicht gibt, ist interessant, sondern die Lebensgeschichten der Figuren. Einmal wird über sie gesagt: «Sie schwimmen auf einem kleinen Meer von Anekdoten.» Im Grunde ist das Buch genau das: ein kleines Meer von Anekdoten.

Die es freilich in sich haben. Stine Pilgaard, geboren 1984 in Aarhus, hat ein perfektes Sprachgefühl, zu erkennen in einer grossen Übersetzung. Sie ist eine Meisterin von Beobachtung und ironischer «Integration», indem sie nämlich kaum merklich Zitate aus Hochkultur (Inger Christensen, James Joyce) und dänischem Pop einarbeitet. Sie hat den Blick für Situationskomik und eine sprudelnde Erzähllust. Ob sie «Dänemarks erfolgreichste Autorin» ist, wie der Verlag sie bewirbt, wissen wir nicht. Aber keine nimmt so scharf und so amüsant das zwischenmenschliche Verhalten aufs Korn wie sie. Jedenfalls in Dänemark.

Stine Pilgaard: Lieder aller Lebenslagen. Roman. Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer. Kanon-Verlag, Berlin 2023. 208 S., Fr. 32.50.

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