Dienstag, November 26

«Die Sonne der Toten» ist eine unerbittliche Abrechnung mit der kommunistischen Oktoberrevolution und jenen, die sie unterstützten. Thomas Mann plädierte, dass Iwan Schmeljow dafür den Nobelpreis bekommen sollte. Das Buch ist beklemmend aktuell geblieben.

Wie vor hundert Jahren ist dieses grandiose Buch über die gemarterte Krim auch jetzt wieder von bedrückender Aktualität. Iwan Schmeljow hat es 1923 im französischen Exil publiziert, nachdem er dem bolschewistischen Terror und dem Hunger im russischen Bürgerkrieg nur knapp entkommen war.

Nachdem es mit dem Titel «Die Sonne der Toten» 1925 bei S. Fischer erschienen war, setzte sich Thomas Mann dafür ein, er schlug den Russen sogar für den Nobelpreis vor, den dann Iwan Bunin bekam. Erst jetzt gibt es endlich diese erschütternde, romanhafte Epopöe (so die Gattungsbezeichnung des Autors) vom Überleben und Sterben in der bukolischen Landschaft der Krim um das Jahr 1921 wieder auf Deutsch – mit dem preziöseren Titel «Der Toten Sonne», aber in der sprachakrobatisch exzellenten Übersetzung von Christiane Pöhlmann.

Kampf ums Überleben

Iwan Schmeljow, geboren 1873 in eine Moskauer Kaufmannsfamilie, hatte früh Erfolg mit der Literatur, sympathisierte 1917 mit der Februarrevolution, nicht aber mit den Bolschewiken und zog sich 1918 in sein Haus auf die Krim zurück, wo er den roten Terror erlebte, dessen Opfer auch sein einziger Sohn wurde. 1922 gelang ihm und seiner Frau die Flucht ins Ausland, wo er sogleich in «Der Toten Sonne» seine kunstvoll beredte Anklage gegen ideologischen Furor, Willkür und Verbrechen erhob.

Später verlor er sich in Exileinsamkeit und Gottvertrauen, verirrte sich sogar so weit, dass er 1941 in den Nazis zunächst rettende Verbündete im Kampf gegen die Mörder seines Sohnes sah. Verarmt und vergessen starb er 1950 in Frankreich.

Wie Dantes «Inferno» mit seinen Gesängen ist auch Schmeljows «Der Toten Sonne» in genau 34 Kapitel unterteilt und beginnt im sommerlichen Idyll der Krim-Landschaft, die sich als Hölle entpuppt. Ein namenloser Ich-Erzähler lebt als Schriftsteller am Rand der kleinen Küstenstadt Aluschta in der Nähe von Jalta in einem Haus mit Garten, Mandelbäumen, Hühnern und einem Pfau, diesem sinnlos luxuriösen Tier, unter einer Sonne, die «unverdrossen ihren Kreis» zieht. Aber bald wird klar, dass hier ein Kampf ums Überleben tobt, jeder gegen jeden, Menschen, Tiere, Nachbarn und ideologische Feinde – eine tödliche Verfinsterung im sonnigsten Teil Russlands.

Es gibt keine historisch-chronologischen Angaben, aber zu Beginn der Erzählung sind wir vermutlich im August 1921, denn im November davor hatte die Weisse Armee im Bürgerkrieg die Krim aufgegeben, und nun herrschen brutale «Einfaltspinsel mit dem roten Stern auf der Mütze», einer ihrer blutrünstigsten Anführer ist Bela Kun (der auch heute noch als «ungarischer Revolutionär» verharmlost wird). Allgegenwärtig sind der gezielt herbeigeführte Hunger und politische Massaker, Folter und Hinrichtungen, wovon aber nur nebenbei in fein gesponnenen Andeutungen erzählt wird.

Peinigend realistische Bilder

In einer unaufdringlich lyrischen Prosa lässt Iwan Schmeljow einen infernalischen Chor auftreten, in einem Krabbeln von «Menschenkäfern» mit den Stimmen von hungernden Kindern und zankenden Nachbarn, die einander bestehlen. Ihre Auftritte haben auch ein lebensklug schwatzender Doktor und ein weltfremd gelehrter Professor, bauernschlaue Opportunisten und mörderische Wendehälse sowie ein redlicher Briefträger, der sich nicht mehr zurechtfindet in diesem «verwesenden Russland». Und der Erzähler fragt sich, wie sein Vorbild Tschechow, dieser «feinfühlige Geist», gelebt hätte in solch einem Hades unter Folterknechten und einer «hohnlachenden Sonne».

Die einst multikulturelle, blühende Gegend und ihre Bewohner werden von der moskowitischen und der einheimischen Soldateska gepeinigt. Nicht nur die Menschen, auch Tiere und Pflanzen leiden: Tomaten sind wegen Wassermangels nur noch «blutige Fetzen»; ein Habicht zerfleischt ein Huhn des Erzählers, hinterlässt nur «Blut und Federn»; ein alter Tatar verliert den Verstand, als sein Pferd verhungert. Und der Anblick eines anderen sterbenden Pferdes «verblüfft meinen Pfau derart, dass etwas Leben in ihn kommt und er einen seiner leeren Schreie ausstösst».

Solch peinigend realistische Bilder voll krasser Poesie wechseln sich ab mit der ständigen Anklage des Erzählers gegen die Intellektuellen und Mächtigen in «London, New York, Paris», die fasziniert sind von «unserem Experiment», der kommunistischen Diktatur im damaligen Russland. Ihnen ruft er zu: «Sieh her, Europa!»

Das schrieb Iwan Schmeljow vor etwa hundert Jahren im sonnigen Südfrankreich im Haus seines Förderers Iwan Bunin. Aber bei der Lektüre der neuen deutschen Übersetzung dieses faszinierenden poetischen Aufschreis könnte man manchmal meinen, er habe sich im Jahrhundert geirrt und spreche von gegenwärtigen russischen Peinigern und Aggressoren auf der Krim und anderswo.

Iwan Schmeljow: Der Toten Sonne. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Christiane Pöhlmann. Die Andere Bibliothek, Berlin 2024. 314 S., Fr. 38.90.

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