Der russische Staat muss mittlerweile immer höhere Entschädigungen zahlen, um Freiwillige für den Einsatz in der Ukraine zu mobilisieren. Die russische Schriftstellerin Sonja Margolina schreibt über die mitunter Anreize, die eine solche Rekrutierung schafft.
Als ich nach dem Studium der Biologie in den siebziger Jahren in der Umweltschutzabteilung eines regionalen Instituts angestellt wurde, musste ich mich mit dem Monitoring der Gewässerverschmutzung im Moskauer Gebiet befassen.
Eines Tages sollten drei Mitarbeiter unseres Labors eine Kolchose für Schweinezucht besichtigen, um deren Abwässer zu kartieren und einige Proben zu entnehmen. Am Institut wurden wir von einem Angestellten der Kolchose abgeholt. Der schmächtige Mann in seinen Vierzigern sass wortkarg am Steuer, so dass zwischen uns kein Kontakt zustande kam und alle sich in ein bedrückendes Schweigen hüllten.
Als ich das nicht länger aushielt, fragte ich ihn, wie seine Kolchose eigentlich heisse. Er verzog seinen Mund und stiess nur hervor: «Beria-Kolchose». Lawrenti Beria war der berüchtigte Vorsitzende von Stalins Geheimpolizei NKWD, der den Grossen Terror der dreissiger Jahre mitorganisiert hatte und nach dem Tod Stalins 1953 verhaftet und hingerichtet worden war. Mit diesem Witz, ging mir durch den Kopf, wollte der Techniker vermutlich zum Ausdruck bringen, dass die Verhältnisse in der Kolchose denen der Stalinzeit entsprachen. Nach einer Pause sagte er tatsächlich: «Ihr habt einfach keine Ahnung, wie es hier zugeht.»
Conditio inhumana
Kurz danach rochen wir den unverwechselbaren Gestank von Schweinemist. Der Wagen hielt vor der Ruine des Schweinestalls. Am offenen Tor, durch das die Jauche ungehindert hinausfloss, watete eine Mitarbeiterin in Gummistiefeln. Sie schob den flüssigen Kot mit dem Spaten in den Graben am Hochufer eines kleinen Bachs. Eine Kläranlage gab es nicht. Wie muss die Frau stinken, wenn sie nach getaner Arbeit nach Hause kommt.
Schweigend füllten wir unsere Kolben mit dem Schweinekot und stiegen zum Bach hinab, um die Wasserproben zu entnehmen. Der Techniker sass die ganze Zeit auf einem Baumstamm und rauchte. Danach brachte er uns zur nächsten Bahnstation und fuhr zurück, ohne sich zu verabschieden. Die Proben wurden an ein Labor weitergeleitet. Dass die Ergebnisse der Tests irgendwelche Folgen für die Kolchose haben würden, war nicht zu erwarten.
Von dieser Reise hatte ich neben den Proben den kryptischen Satz des Technikers «Ihr habt einfach keine Ahnung, wie es hier zugeht» mitgenommen. Damals wies er darauf hin, dass es in unmittelbarer Nähe Zustände geben musste, die für uns in der Metropole, in Moskau, so unvorstellbar waren, als lebten wir auf dem Mond oder im kapitalistischen Westen. Voller Unbehagen und Scham spürte ich plötzlich eine unüberbrückbare soziale Distanz zwischen uns, den Privilegierten, und denen da draussen. Man müsste in der Haut dieser Ausgestossenen stecken, um sie verstehen zu können.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass der namenlose Techniker aus der Schweine-Kolchose sich heute gerne als Vertragssoldat für den Krieg in der Ukraine verpflichten würde. Auch der Mann der Bäuerin, falls sie einen hatte, würde sich lieber für dessen üppigen Sold entscheiden, statt für Almosen Traktor zu fahren und sich zu Tode zu saufen.
Der für russische Verhältnisse enorme und immer höher steigende Sold und das üppige «Grabesgeld» machen den Kontrakt mit der Armee und das Risiko, als Kanonenfutter zu enden, attraktiv.
Das Töten von Menschen und die Möglichkeit des eigenen Tods hält die 1983 in Leningrad geborene Journalistin und Dichterin Xenia Bukscha in ihrem Aufsatz «Ökonomie der Verzweiflung» in der «Nowaja Gaseta» für eine durchaus rationale ökonomische Wahl. In vielen abgehängten Regionen befänden sich Menschen in einer deprimierenden Lage, in der sie weder sich selbst helfen noch Unterstützung hätten finden können. Wegen Problemen mit Wohnen, Gesundheit, Arbeit oder ihren Nächsten steckten sie in einer Sackgasse. Um da herauszukommen, hätten sie sich bei Banken verschuldet und Mikrokredite aufgenommen, deren Tilgung oft vierzig Prozent des Monatsgehalts aufzehrten. Unter einer solchen finanziellen und psychologischen Last zu leben, sei unerträglich und erniedrigend.
Wieder frei atmen können
Vor diesem Hintergrund ist auch die selbst im Vergleich mit armen Entwicklungsländern ungewöhnlich niedrige Lebenserwartung der russischen Männer zu erklären. Im Jahre 2022 verloren 70 000 ihr Leben an Wodka, Drogen und Selbstmord. Glaubt man den offiziellen Zahlen der russischen Opferzahlen in der Ukraine, dann scheint der Krieg weniger verlustreich zu sein als der Frieden, in dem die in die sozialökonomische Sackgasse geratenen Männer mittleren Alters an Verzweiflung sterben.
Grösstenteils geschieht das auf dem Land. Forscher haben herausgefunden, dass zu den besonders stark betroffenen Regionen der hohe Norden sowie das Gebiet von Magadan, die Halbinsel Tschukotka, aber auch das südsibirische Burjatien und die Baikal-Region gehörten. In den Dörfern sterben die meisten Männer an Alkohol und Suizid, in den Städten an Drogen.
Während Putin sich kinderreiche Familien wünscht und die Duma ein absurdes Gesetz nach dem anderen ausspuckt, die Frauen zum Kinderkriegen zwingen sollen, ist das Institut der Ehe in der Auflösung begriffen: Siebzig Prozent aller Ehen werden in Russland geschieden.
Doch auch nach der Scheidung müssen die Partner oft eine Wohnung teilen, weil der Mann sich weigert auszuziehen oder er sich die Trennung nicht leisten kann. In einer solchen Sackgasse gefangen, träumen nicht wenige Partnerinnen, aber auch die Mütter der verlorenen Söhne davon, die zur Last gewordenen und oft gewalttätigen Taugenichtse loszuwerden. Den Familienangehörigen bietet der Krieg in der Ukraine oft die Möglichkeit, nach dem Tod ihrer Männer nicht nur an unvorstellbar viel Geld zu kommen, sondern auch wieder frei atmen zu können.
Bereits nach der Teilmobilisierung im Herbst 2022 erschienen in den Dating-Chats Anzeigen von auf diese Weise reich gewordenen jungen Witwen, die auf der Suche nach einem neuen Partner waren. Es kommt auch vor, dass Ehefrauen ihre Gatten beim Wehramt denunzieren. Eine häufige Frage an das juristische Online-Portal Pravoved lautet daher: «Wie kann ich meinen Ehemann zur SVO (Spezialoperation) schicken, ohne dass er davon erfährt? Er will nicht arbeiten.» Oder: «Guten Morgen. Ich möchte meinen Lebensgefährten zur SVO schicken, weil er keine Trennung will, wegziehen aber auch nicht. Er trinkt, prügelt, meine Kinder aus der ersten Ehe leiden. Ich bin davon müde . . .»
Der Fernsehkanal Currenttime.tv hatte im Frühjahr 2024 Interviews mit Männern veröffentlicht, die von ihren Müttern und Ehefrauen in den Krieg getrieben worden waren, auch wenn diese keine wirklichen Geldsorgen hatten.
Sergei, der Flugblätter gegen den Krieg verbreitet hatte, wurde vorübergehend festgenommen und hatte sich für die Ausreise ins Ausland entschieden. Seine Mutter war empört und warf ihm vor, dass er seine Heimat nicht schützen wolle. Sie suchte etwas, erzählte er, um stolz auf mich sein zu können. «Du wirst als Mann sterben. Alle werden stolz auf dich sein . . . Deine Frau wird die Witwe eines Helden sein.» Sie hatte seinen jüngeren Bruder angestiftet, zum Wehramt zu gehen und dort zu erzählen, dass Sergei vorhabe, vor der Mobilisierung zu fliehen.
Georgi, der ebenfalls emigrieren wollte, musste sich von seiner Mutter anhören: «Vielleicht solltest du es doch probieren, es könnte ja sein, dass du lebend zurückkehrst.» Eine junge Frau namens Anna erzählte Currenttime.tv die Geschichte ihrer Schulfreundin, die ihren ungeliebten Mann wegen des enormen Solds von 80 000 Dollar an die Wagner-Gruppe «verkauft» haben soll. Im letzten Monat schwanger, setzte sie ihn ins Auto und fuhr mit ihm zum Wehramt.
Korruption auf allen Ebenen
Wahrscheinlich ist der Anteil der Frauen, die ihre Männer denunzieren oder ihnen den Tod wünschen, nicht allzu hoch. Die Geschichten zeigen aber, wie es in den von Armut und häuslicher Gewalt betroffenen Familien zugeht. Das Versprechen des enormen materiellen Aufstiegs und auch die leise Hoffnung, der Taugenichts würde vielleicht nicht mehr zurückkommen, lassen bei manchen jeden moralischen Skrupel fallen.
Xenia Bukscha beschuldigt den Staat, absichtlich die «Ökonomie der Verzweiflung» gefördert zu haben, damit immer mehr Menschen in eine Situation gerieten, in der sie weder sich selbst helfen noch die Hilfe anderer finden können. Es sei kein Zufall, dass fast die Hälfte der freiwilligen Kontraktsoldaten mehr als 50 000 Rubel Schulden bei Banken hätten.
Doch dass Verarmung und Entmenschlichung der Bevölkerung eine bewusste Absicht der korrupten Eliten war, ist zu bezweifeln. Nicht anders als die Milliarden, die für die Modernisierung der Streitkräfte bestimmt sind, verschwindet auch der ohnehin dürftige soziale Transfer in den Händen einer korrupten Bürokratie auf allen Machtstufen, bis hinunter zum letzten Dorfvorsteher.
Die Verführung der Gesellschaft mit Geld, argumentiert die ehemalige Vorsitzende der «Soldatenmütter von Petersburg», die 81-jährige Ella Poljakowa, habe mit der Armut, aber auch damit zu tun, dass viele Familien durch die Kriege zerstört worden seien. Im Ergebnis waren viele Mütter mit Söhnen zurückgeblieben, die keinen «Wert» mehr hatten und die man als «wertlos» empfand. Hypotheken, Kredite, Mikrokredite, all die Schulden drückten auf das Bewusstsein. Es ging nur noch um nacktes Überleben.
Im Ergebnis haben Menschen sich selbst verloren. «Mütter sind auf einmal keine Mütter, Söhne keine Söhne mehr.» Menschen verstünden nicht, wofür sie lebten, welche Kontrakte sie abschlössen und welche Folgen der Vertrag hätte haben können. «Russland wurde von einer Nichtliebe heimgesucht», stellt die alte Dame verbittert fest.
Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin.