Samstag, Januar 11

Maria Stepanova gehört zu den russischen Intellektuellen, die vor Putin ins Exil flüchten mussten. In ihrem neuen Roman gibt sie ihrer Scham und Wut über den Krieg Ausdruck und denkt über die Aporie nach, der Identität als Russin nicht entkommen zu können.

Auf der Fahrt zu einem ausländischen Literaturfestival strandet die Schriftstellerin M.: In der Grenzstadt F. fällt der Anschlusszug aus, sie verliert das Netzteil ihres bald toten Handys, und niemand wartet am Bahnhof, um sie wie verabredet abzuholen. M. registriert mit Erleichterung, dass sie aus der «eigenen, klar vorhersehbaren Bahn» geraten ist. «der absprung», das neue Buch der 1972 in Moskau geborenen Maria Stepanova, beginnt mit einem sanften Gleiten ins Abseits.

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Entstanden ist der schmale Roman aus Scham und hilfloser Wut über Russlands Krieg gegen die Ukraine, der Stepanova ins Berliner Exil getrieben hat. Ihre Protagonistin M. ist wie sie aus Russland geflohen, weil das dort herrschende «Untier» Krieg gegen einen «Nachbarn» führt und zudem Bewohner des eigenen Landes umbringt.

Im Bauch des «Untiers»

Die Exilantin versucht anfangs, nach dem Heimatland auch der Identität als Russin zu entkommen. Doch ist M. im Exil Menschen begegnet, «über die M.s Landsleute hergefallen» sind und die daher «mit Schrecken und Argwohn» auf russische Exilanten blicken, «als hätte deren Leben vor dem Krieg (. . .) keinerlei Bedeutung mehr, als diente es nur zur Tarnung ihrer Verwandtschaft mit diesem Untier, das immer weiter frass». Tatsächlich, gesteht sich M. ein, gibt es diese Verwandtschaft: Sie habe lange Zeit im Bauch des «Untiers» gelebt, sei also ein Teil von ihm.

Im Exilland, das ebenso wenig benannt wird wie die Kriegsparteien, hat M. den Boden unter den Füssen verloren. Der Alltag ist ihr entglitten und das Schreiben. Die Worte zerfallen ihr nicht gerade wie einst Hofmannsthals Lord Chandos wie «modrige Pilze» im Mund. Sondern auf der Zunge verspürt M. vielmehr «eine halbtote Maus, die sich beim besten Willen nicht ausspucken», nur «krachend mittendurch beissen» oder im Mund behalten lässt. Sie kann «an nichts anderes» mehr denken.

Das Stranden in der Grenzstadt ist daher eine Verheissung, M. wird eine Fremde. Sie nimmt ein Hotelzimmer, trinkt Wein im Grand-Hotel Petuch, flaniert durch F. und lernt einen schönen jungen Mann kennen sowie zwei Zirkusartistinnen.

Die Ferien von der Identität sind allerdings durchschossen von Gedanken, Erinnerungen, Träumen und Geschichten, die auf verwickelte oder geradlinige Weise die Zugehörigkeit zu Russland umspielen. Da gibt es den aus dem Norden stammenden Linguisten des Arabischen, der sich am Rand der Wüste wohlfühlt, bis ihm Nomaden die Zunge abschneiden und sich über das wilde, nur noch grunzende Tier amüsieren. Der Professor kann sich später befreien, geht aber in der Wüste irr. Er ist ein «Petuch» geworden, ein Hahn.

Das Grand-Hotel in der Grenzstadt heisst Petuch, und M. erinnert sich daran , dass das Wort in den Lagern Russlands, dem Archipel Gulag der Gegenwart, einen Mann bezeichnet, der gegen die Gesetze der herrschenden Kriminellen verstossen hat und durch Massenvergewaltigung zu einem Unberührbaren erniedrigt wird. Die Gewalt ist auch in der friedlichen Grenzstadt präsent und mit ihr, ohne dass es ausdrücklich genannt wird, «das Untier».

Absprung ins Symbolische

Man kann «der absprung», trocken und doch rhythmisch federnd von Olga Radetzkaja übersetzt, als eine Reaktion auf ein kritisches NZZ-Stück des Schriftstellers Boris Schumatsky vom Februar 2023 lesen. Beide Kriegsgegner, warf der Exilrusse der Exilrussin vor, sich nicht aus der grossrussischen, kolonialen Identität des Sowjetmenschen und auch Putins zu befreien. Von innen heraus aber sei diese nicht zu sprengen, und sie grenze zudem Russlanddeutsche, Tschetschenen und Juden aus. Die Wahl der Identität steht allerdings den wenigstens frei, und Stepanovas Bekenntnis, auf Gedeih und Verderb mit der russischen Identität infiziert/identifiziert zu sein, wirkt auch lauterer.

Maria Stepanova, ehemals Herausgeberin des russischen intellektuellen Magazins «Colta», das zu Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine verboten wurde, schildert den Identitätsfluchtversuch ihres Alter Egos auf hochreflektierte Weise: Die Erzählerin besieht sich M. mit der Sympathie einer höchst moralischen Schmetterlingsjägerin; darin erinnert «der absprung» an Bücher von J. M. Coetzee. Zwischen den strengen Reflexionen leuchten oft rätselhafte Gedanken und Geschichten, inspiriert von Hofmannsthal bis Nabokov.

Durch sie und durch die mit Punkten abgekürzten Namen von Orten und Figuren bekommt das Buch allerdings auch etwas Puppenspielhaftes: Die Grausamkeiten des Krieges, die Trauer, Hilflosigkeit und Einsamkeit des Exils werden zum Absprung ins Symbolische, Hochkulturelle genutzt. Mit dieser Irritation versöhnt dann das Ende. Maria Stepanova verschafft M. auf berückende, das Buch krönende Weise Hoffnung: mit einem nicht zufällig «Todesnummer» genannten Zaubertrick und der Begegnung mit ihrer jüdischen Identität.

Maria Stepanova: der absprung. Roman. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 144 S., Fr. 34.90.

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