Dienstag, November 26

Ein Heimbewohner hatte den Drang, Autogaragen aufzusuchen, um Prospekte einzusammeln. Es soll zu Angriffen auf Personal gekommen sein, weshalb der 46-Jährige von solchen Gängen abgehalten wurde. Zwei Mitarbeiterinnen einer Institution im Bezirk Horgen sind am Montag vor Gericht gestanden.

Am 1. März 2022 öffnete ein 46-jähriger Heimbewohner mit einem fragilen X-Syndrom mit kognitiven Einschränkungen ein Fenster in einer Institution für Menschen mit Behinderungen im Bezirk Horgen. Er stürzte knapp 7 Meter in die Tiefe auf eine Rasenfläche, wobei unklar blieb ober er sprang oder hinunter klettern wollte. Der Mann war zuvor von einer Sozialpädagogin in seinem Zimmer eingeschlossen worden.

Durch den Sturz zog er sich mehrfache Knochen- und Rippenbrüche sowie ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma zu und musste 18 Tage in Spitalpflege verbringen. Der 46-jährige Mann lebte schon seit 10 Jahren in der Institution und war in den umliegenden Autogaragen bestens bekannt.

Er hatte den Drang, die Garagen aufzusuchen, um Prospekte einzusammeln. Wenn er dies nicht tun konnte, wurde er wütend.

Weil es wegen der Digitalisierung immer weniger Autoprospekte gab, soll es mehrfach zu starken Gemütsausbrüchen, Angriffen auf Personal von Autogaragen sowie des Heimes und auch zu Polizeieinsätzen gekommen sein, wie der Verteidiger der Sozialpädagogin vor Bezirksgericht Horgen ausführt. In einzelnen Garagen habe der Mann Hausverbot gehabt.

In der Institution bestand deshalb die Richtlinie, den 46-Jährigen, der kognitiv auf dem Stand eines 7-Jährigen sein soll, vom Gang in die Autogaragen abzuhalten.

Freiheitsberaubung und fahrlässige Körperverletzung

Nun sitzen die 31-jährige Sozialpädagogin und eine 56-jährige Heilpädagogin, die als Gruppenleiterin ein Dokument mit dem Titel «Bewegungseinschränkende Massnahmen» verfasst hatte, als Beschuldigte vor Bezirksgericht Horgen. Ihnen werden die Straftatbestände «Freiheitsberaubung und Entführung» und fahrlässige Körperverletzung vorgeworfen.

Die Staatsanwältin, die nicht zum Einzelrichter-Prozess erscheinen muss, hat für die Sozialpädagogin eine bedingte Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 120 Franken (6000 Franken) und eine Busse von 1200 Franken beantragt. Für die Heilpädagogin und Gruppenleiterin sollen es 70 Tagessätze à 100 Franken (7000 Franken) bedingt und 1400 Franken Busse sein.

Beide Beschuldigten haben die deutsche Staatsangehörigkeit. Der Straftatbestand «Freiheitsberaubung und Entführung» ist eigentlich eine sogenannte Katalogtat für einen obligatorischen Landesverweis. Die Anklage fordert aber explizit, davon sei abzusehen.

Die Staatsanwältin hatte das Verfahren ursprünglich einstellen wollen, war vom Obergericht auf eine entsprechende Beschwerde der Mutter des Verletzten hin aber zurückgepfiffen worden. Im Prozess vor Bezirksgericht Horgen machen beide Frauen keine Aussagen mehr zur Sache.

War der Sturz voraussehbar?

Der Rechtsanwalt der Mutter des Heimbewohners fordert im Gerichtssaal einen Schuldspruch. Dem Grundsatz nach seien Schadenersatz- und Genugtuung zuzusprechen, die Höhe der Beträge könne noch nicht beziffert werden. Er kritisiert, dass die Einschliessungen in der Institution nicht richtig dokumentiert worden seien und die Mutter nicht über die Massnahmen informiert worden sei.

Es bestehe zudem der Verdacht, dass die beiden Frauen entgegen einem ausgearbeiteten Notfallplan gehandelt hätten und dieser Plan vor der Einreichung bei den Untersuchungsbehörden abgeändert worden sei.

Die beiden Frauen hätten ihre Sorgfaltspflichten verletzt. Der Sturz sei voraussehbar gewesen. Ein Arzt habe zuvor schriftlich in einem Dokument «unkontrollierbare Entladungen» des Heimbewohners festgehalten.

Die Verteidiger der beschuldigten Frauen beantragen Freisprüche und je 500 Franken Genugtuung für unnötige Demütigungen, Stigmatisierung und schlaflose Nächte. Der Vorfall sei «ein tragischer Unfall» gewesen. Die Frauen hätten «pflichtbewusst» gehandelt und keine Sorgfaltspflichten verletzt.

Aufgrund der Zwangsstörung des Heimbewohners mit den Auto-Prospekten sei ein Notfallplan mit mehreren Eskalationsstufen schriftlich aufgesetzt worden. Darin sei festgehalten worden, falls die anderen Massnahmen nichts nützten, sei der Mann in seinem Zimmer für maximal 30 Minuten einzuschliessen, bis er sich wieder beruhigt habe. Das habe zuvor auch regelmässig funktioniert.

Dass er aus dem Fenster springen würde, hätten die Frauen nicht voraussehen können, zumal der Mann Höhenangst und auch einen Drang habe, immer alle offenen Fenster zu schliessen. Man habe nie in seiner Anwesenheit Lüften können und auch seine Mutter habe gesagt, sie hätte nie mit einem solchen Vorfall gerechnet.

Nicht verhältnismässig und kein Einwilligung der Mutter

Die Einzelrichterin spricht allerdings beide Frauen anklagegemäss schuldig und verhängt bedingte Geldstrafen von 50 und 70 Tagessätzen zu je 100 Franken. Bussen gibt es keine. Die beiden Verurteilten müssen jedoch solidarisch die Anwaltskosten der Mutter von rund 12 000 Franken bezahlen. Hinzu kommen rund 4000 Franken Verfahrens- und Gerichtskosten.

Die Strafe der Heilpädagogin ist höher, weil sie in mehrere Einschliessungen involviert war. Für die Sozialpädagogin war es das erste Mal, dass sie persönlich an einer Einschliessung beteiligt war. Landesverweise gibt es keine. Die Zivilforderungen werden auf den Zivilweg verwiesen.

Der Straftatbestand der Freiheitsberaubung und Entführung sei erfüllt. Denn es habe keine Einwilligung der Mutter zur Einschliessung vorgelegen, so die Einzelrichterin. Und die Verhältnismässigkeit sei nicht gewahrt worden. Obwohl die Problematik in der Institution bekannt gewesen sei, seien die Vorgänge nicht ausreichend dokumentiert worden. Es sei im Nachhinein schwer nachvollziehbar, wann der Mann wie lange eingeschlossen worden sei.

Für die Einzelrichterin war der Sprung aus dem Fenster zudem voraussehbar. Die Frauen hätten ihre Sorgfaltspflichten verletzt. An eine Institution gälten höhere Anforderungen als an Privatpersonen. Eine Zwangsstörung könne Höhenangst aufheben. Der Mann habe im Zimmer nur unzureichend überwacht und vor einer Selbstgefährdung geschützt werden können.

Urteile GG240018 und GG240019 vom 11. 11. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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