Montag, Januar 27

Asha Gond lernte als Kind in ihrem Dorf gegen alle Widerstände Skateboarden. Heute ist die junge Frau in Indien ein Vorbild. Sie zeigt den Mädchen im Land, wie Selbstermächtigung über Sport geht.

In dieser Geschichte gibt es eine gute Fee. Eine sehr unkonventionelle, die Skateboard-Parks statt Pferdekutschen baut. Und ein eigenartiges Aschenputtel, das dem Märchenprinzen davonläuft und stattdessen Selbstbestimmung anstrebt. Ein Dorf-Aschenputtel, das nicht weiss, wie man einen Sari bindet, aber durch Sport und Bildung sein Leben und das aller Mädchen im Dorf und darüber hinaus verbessern will. Ihr Name ist Asha Gond, und sie ist eine indische Skaterin und Rapperin.

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Die 25-Jährige kommt aus Janwaar, einem Dorf in einer der ärmsten Gegenden des Subkontinents, 630 Kilometer südlich von Delhi. Sie gehört einer Adivasi-Gemeinschaft an (Adivasi bedeutet wörtlich Ureinwohner) und hat es geschafft, sich mit dem Skateboard einen Weg aus der Armut zu bahnen. «Eine Adivasi in Janwaar zu sein, bedeutet, die von der Gemeinschaft aufgestellten Regeln zu befolgen», sagt Gond. «Du musst innerhalb der Grenzen bleiben, die dein Job oder dein Name vorgibt. Wenn du versuchst, Dinge zu tun, die über die Regeln hinausgehen, wirst du herabgestuft, und es werden Gerüchte über dich verbreitet, die dich demoralisieren.»

Für Indien an die Weltmeisterschaft

Mädchen befolgen Regeln, sie setzen den Lebensstil der Eltern und Vorfahren fort. Schule ist zwar eine Option, wird aber als ziemlich unwichtig angesehen. Dafür ist das Erlernen von Hausarbeiten zentral. Es ist vorgesehen, dass die jungen Frauen heiraten, noch bevor sie aus dem Teenageralter heraus sind. Sie haben keine Stimme in der Familie, geschweige denn in der Gemeinschaft.

Doch im Fall von Asha Gond geschieht etwas Aussergewöhnliches. In ihrem Dorf entsteht ein Ort, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. «Er sah aus wie ein Spielplatz, aber mit seltsamen Rampen am Rand», sagt sie. Es war ein Skatepark, den Ulrike Reinhard, eine visionäre Deutsche, 2015 errichtet hatte. Reinhard hatte einige Jahre zuvor in Kabul gesehen, welche Auswirkungen Sport auf Mädchen haben kann. Ihre Idee war es, die Bedingungen in Janwaar zu verbessern: für alle, aber vor allem für Mädchen.

Anfangs sah Gond hauptsächlich den Jungs beim Skaten zu. «Als ich das erste Mal auf dem Skateboard stand», sagt sie, «hatte ich Mühe, das Gleichgewicht zu finden. Und es fiel mir noch schwerer, mit den sarkastischen Kommentaren der Jungs umzugehen. Aber ich machte weiter.» Fortan tauchte sie jeden Tag im Park auf.

Das passte ihren Eltern nicht. Sie hörten von anderen Dorfbewohnern, dass ihre Tochter mit den Jungs herumhänge, mit ihnen Skateboard fahre. «Sie sagten Dinge wie: ‹Mädchen sollten das nicht tun, behaltet sie zu Hause, bringt ihr bei, wie man kocht und sich auf die Ehe vorbereitet›», sagt Gond. Am Anfang sei das eine Herausforderung gewesen, sie habe sich aber geweigert, auf die Stimmen zu hören. Die Kritik wurde noch lauter, als sie dank Reinhard die Möglichkeit erhielt, in Grossbritannien Englisch zu studieren.

Ihre Eltern gerieten unter starken Druck, aber Gond blieb hartnäckig. Schliesslich liessen sie ihre Eltern gehen. Gond war mit 17 Jahren das erste Dorfmitglied, das die Gemeinschaft für eine Ausbildung im Ausland verliess. Danach verbrachte sie einige Jahre an einer Open School in der Nähe von Delhi. Diese zielt darauf ab, Kindern eine Ausbildung zu geben, ohne dass sie an reguläre Schulklassen gebunden sind, der Unterricht ist individuell. Dort begann Gond auch, regelmässig zu skaten. «Die Jungs in Janwaar haben mich immer verspottet. Hier war das Umfeld ganz anders, einladend. Es war ein unglaubliches Gefühl, wenn die Leute mir zusahen und meine Bemühungen würdigten», erinnert sie sich.

2018 war Gond so gut geworden, dass sie Indien bei der Weltmeisterschaft in China vertrat. Ihre Teilnahme löste in der Heimat Begeisterung aus. Journalisten strömten aus ganz Indien nach Janwaar, und ab jenem Moment begannen sich die Dinge wirklich zu ändern: für Gond, aber nicht nur für sie.

In der Vergangenheit waren indische Frauen mit erheblichen Hindernissen im Sport konfrontiert gewesen. Traditionelle Geschlechternormen und gesellschaftlicher Druck hielten sie von sportlichen Aktivitäten ab, die als unangemessen für ihr Geschlecht galten. Ihr Zugang zu Trainingseinrichtungen und Ressourcen war begrenzt.

Doch die Frauen begannen zunehmend, Geschlechternormen infrage zu stellen und den Sport zu erobern. Das zeigt Wirkung. Heute sorgen indische Sportlerinnen für Aufsehen – paradoxerweise hauptsächlich in Sportarten, die als für Frauen «am wenigsten geeignet» galten: Ringen, Boxen, der kampfbetonte Mannschaftssport Kabaddi, Gewichtheben und Skateboarden. Sportlerinnen wie Sania Mirza (Tennis), Mary Kom (Boxen), Karnam Malleswari (Gewichtheben) oder Manu Bhaker (Pistolenschiessen) verzeichnen auch international Erfolge.

Durch Gonds Vorbild sind Indiens Skaterinnen heute zwar eine Kraft, sie stehen jedoch noch immer vor zahlreichen Hindernissen. Es gibt nur wenige Skateparks, und diese sind oft weit von den Wohnorten der Frauen entfernt. Viele von ihnen sind stundenlang mit öffentlichen Zügen, Auto-Rikschas und Bussen unterwegs, um die Parks zu erreichen. Ausserdem gibt es nur wenige weibliche Skateboard-Lehrerinnen oder -Mentorinnen, was es für die Frauen schwierig machen kann, ihre Fähigkeiten zu verbessern. Doch vielen ist es gelungen, sich arrangierten Ehen zu widersetzen, andere haben finanzielle Unabhängigkeit erlangt und sich durch das Skateboarden Respekt in ihren Gemeinschaften verschafft. Sie tragen westliche Kleidung, reisen weit und allein und schauen einem direkt in die Augen, wenn sie mit einem sprechen.

Buchautorin, Rednerin, Werbefigur

Gond gründete eine NGO, die Barefoot Skateboarders, und eine Vorschule in Janwaar, in der sie Kinder auf die Grundschule vorbereitet. «Ich dachte an all die Probleme, mit denen ich konfrontiert war, als ich in die Schule kam», sagt sie. «Die Idee war, Lernen durch Spiele und Geschichten unterhaltsam zu gestalten. Und, was noch wichtiger ist, die Kinder an den Gedanken zu gewöhnen, dass Bildung Spass macht.» Sie hat ein Buch geschrieben, spricht in Seminaren und an Hochschulen und ist in Werbespots zu sehen.

«Als ich ein junges Mädchen war, wusste ich nicht, ob meine Träume in Erfüllung gehen würden», sagt Gond. Sie habe geträumt, aber sie habe nie darüber gesprochen. Und mit der Zeit seien ihre Träume Realität geworden. «Es gab Zeiten, in denen ich mich schrecklich fühlte, wenn Gerüchte über mich verbreitet wurden. Das hat mich innerlich gebrochen», sagt sie. Aber sie habe sich zusammengerissen.

Gond entdeckte neben ihrem Talent im Skateboarden auch ihre Stimme. Rappend prangert sie Missstände an und fordert Rechte von Mädchen ein. Ihre Botschaft ist, dass ein Leben möglich ist, in dem man selbst über sein Schicksal entscheidet. Ein Leben, in dem man nicht unbedingt einen Prinzen braucht, der einen rettet.

Ein Artikel aus der «»

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