Für seinen Endkampf gegen die Ukraine kommt Putin nicht ohne Unterstützung des russischen Volkes aus. Trotz allen möglichen Argumenten bringt er es aber nur bis zu einem «organisierten gesellschaftlichen Konsens über die Nichtablehnung des Kriegs».
Wladimir Putin ist kein begnadeter Redner. Bei seinen Videoansprachen sitzt er meist verkrampft hinter einem viel zu hohen Tisch, die Ausstattung seines Büros folgt dezidiert einer sowjetbürokratischen Ästhetik, sein Tonfall ist stockend, wichtige Worte presst er hervor. Gleichwohl lohnt es sich, ihm zuzuhören, wenn man verstehen will, was mit Russland los ist.
Der Münchner Slawist Riccardo Nicolosi hat dies getan und legt nun ein elegantes Büchlein vor, in dem er Putins Kriegsrhetorik beschreibt. Nicolosi hebt hervor, dass Putin den direkten Kontakt mit der Bevölkerung scheue. In der Regel tritt der Präsident in geschützten Räumen auf und antwortet auf sorgfältig präparierte Fragen. Dabei ist er sich bewusst, dass er nicht einfach auf eine Begründung seiner gewaltsamen Aussenpolitik verzichten kann. Er bietet seinem überrumpelten Publikum vorgefertigte Argumente aus ganz unterschiedlichen Bereichen an und schafft so – wie es der Soziologe Lew Gudkow ausdrückt – einen «organisierten gesellschaftlichen Konsens über die Nichtablehnung des Kriegs».
Inflation der Argumente
Die löchrige Begründung des russischen Angriffskriegs zeigt sich vor allem in der inflationären Anhäufung von Argumenten: Putin behauptet, die Ukraine «gehöre» zum «historischen Russland», der Westen nutze die Ukraine geopolitisch als «militärischen Aufmarschplatz», schliesslich gelte es, in einem humanitären Einsatz den «ukrainischen Genozid an der russischen Bevölkerung» im Donbass abzuwenden. Ausserdem verweist Nicolosi auf die verschiedenen Stilregister des russischen Präsidenten. So liebt Putin eine pseudojuristische Tonalität, die Russland als Hüterin des Völkerrechts und den Westen als Betrüger darstellt.
Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine rechtfertigte Putin sein Vorgehen mit Hinweis auf Artikel 51 der Uno-Charta, ohne allerdings explizit den Inhalt zu nennen: Das dort verbriefte Recht auf Selbstverteidigung widersprach der russischen Aggression allzu offensichtlich. Noch prominenter ist die Emotionalisierung durch Vulgärausdrücke.
Systematisch bewirtschaftet Putin ein postsowjetisches Ressentiment in der russischen Bevölkerung, indem er behauptet, dass der Westen Russland wie einem gedemütigten Häftling einen «Platz bei der Latrine» zugewiesen habe. Schliesslich wird Russlands Krieg in der Ukraine messianistisch überhöht. Putin delirierte bei der Annexion der vier «neuen Territorien» der Ukraine im September 2022 darüber, dass Russland für eine neue «Weltordnung» kämpfe. Der Westen wolle Russland in eine «Kolonie» und die Russen in eine «Masse seelenloser Sklaven» verwandeln.
Radikalisierung
Als westliches Unterwerfungsmittel identifizierte Putin dabei den LGBTQ-Diskurs, in dem es keine «Mama» und keinen «Papa» mehr gebe, sondern «Elternteil 1, 2 und 3». Schliesslich verstieg er sich zu der Anklage, im Westen herrsche «offener Satanismus». Im zweiten und dritten Kriegsjahr hat Putin seine Kriegsrhetorik weiter radikalisiert. Nicolosi weist in seiner luziden Analyse darauf hin, dass die russische Gesellschaft in einen «permanenten Ausnahmezustand» versetzt werde.
Putins patriotische Parolen übertünchen die Paradoxie einer aggressiven Regierungsführung: Wir sind alle im Krieg, aber es herrscht doch normaler Alltag, Putins Herrschaft soll ewig sein, aber trotzdem droht eine nukleare Eskalation, Russland ist gross und stark, aber seine Existenz wird von einem böswilligen und aggressiven Westen infrage gestellt.
Riccardo Nicolosi: Putins Kriegsrhetorik. Konstanz University Press, Konstanz 2025. 192 S., Fr. 29.90.