Samstag, Oktober 19

Es ist eine der ungewöhnlichsten Forschungseinrichtungen der Welt. Mit der Erweiterung und Renovierung blickt die kulturwissenschaftliche, rund 360 000 Bände umfassende Bibliothek des Warburg Institute in eine gesicherte Zukunft.

Verkürzt könnte man sagen, das Warburg Institute beschäftige sich mit globaler Kulturgeschichte und der Rolle der Bilder in der Gesellschaft. Doch das umreisst noch lange nicht die Besonderheit und Bedeutung dieser Londoner Institution. Ihr Schöpfer, der Hamburger Bankierssohn Aby Warburg (1866–1929), studierte Kunstgeschichte, fühlte sich aber eingeschränkt durch die «grenzpolizeiliche Befangenheit» der Kategorisierungen seines Fachs.

Viel lieber stellte er unwahrscheinliche Verbindungen zwischen verschiedenen Epochen, Regionen und Medien her. Er fügte seine Erkenntnisse schliesslich in ein weitläufiges visuelles Diagramm der europäischen Kunst ein. Innerhalb seines Forschungsthemas, in dem er sich mit dem Nachleben der Antike in der Renaissance befasste, spürte er dem tief reichenden Einfluss von Mythen, Bildern und Riten nach.

Aby Warburg dachte global und interdisziplinär. Und das nach ihm benannte Institut bezieht auch Werke in seine Sammlung ein, die in der akademischen Lehre nicht gerade Spitzenplätze einnehmen: von der Wahrsagerei bis hin zum Interesse an Tarotkarten. Das Institut beherbergt heute auch Gerald Yorkes Sammlung des britischen Okkultisten Aleister Crowley, bestehend aus Hunderten von Crowley-Esoterikstücken: Fotos, architektonischen Skizzen, Briefköpfen, Wachssiegeln, detaillierter Korrespondenz, Gemälden und seinen Visitenkarten.

Vor den Nazis gerettet

Warburgs kulturwissenschaftliche Bibliothek hatte sich noch zu Lebzeiten ihres Gründers von einer privaten Gelehrtenbibliothek zu einer öffentlichen Institution mit hoher Reputation in Fachkreisen entwickelt. Mit ihren Gründungsjahren sind Namen wie Ernst Cassirer, Erwin Panofsky, Gershom Scholem und Richard Salomon verbunden. Später trugen Ernst Gombrich und Michael Baxandall Warburgs Gedanken in kritischer Auseinandersetzung weiter.

Vier Jahre nach Aby Warburgs Tod brachte die Familie seine Sammlung vor den Nationalsozialisten in Sicherheit. Am 12. November 1933 verliessen zwei Frachter Hamburg in Richtung London, beladen mit dem Inventar der Warburg-Bibliothek. Nach mehrfachem Standortwechsel in London fand die Bibliothek, die unter Warburgs Weggefährten Fritz Saxl in den zwanziger Jahren zum Forschungsinstitut geworden war, 1958 unter der Leitung von Gertrud Bing eine Heimat am Woburn Square in Bloomsbury.

Der Architekt Charles Holden hatte das Gebäude als Teil
des ursprünglichen Bloomsbury-Masterplans der Universität vorgesehen: Das Warburg-Gebäude befindet sich am Schnittpunkt dreier grüner Plätze und dient als eine Art Torhaus am nördlichen Eingang zum Campus. Die im Laufe der Jahre dringend notwendige Renovierung nahm der Literaturwissenschafter Bill Sherman in Angriff. Er hatte 2017 die Direktion übernommen. Als ehemaliger Leiter der Sammlungen des sich ständig erneuernden Victoria & Albert Museum brachte er langjährige Bauerfahrung mit Museen mit.

Subtil, aber ausgesprochen wirkungsvoll wurde das Gebäude einer Transformation unterzogen.

Anstatt sich nur um die Reparatur eines undichten Dachs und die Zukunftssicherung der Räumlichkeiten zu kümmern, ergriff Sherman die Gelegenheit für eine umfassende architektonische Aufdatierung des Baus. Er sorgte für die Aufstockung des von der Universität London zur Verfügung gestellten Budgets von 14,5 Millionen um weitere 5 Millionen Pfund, die aus Spendengeldern flossen.

Für die Bauphase (von 2018 bis 2024) erfand Sherman den Begriff «Warburg Renaissance», und das nicht nur, wie er sagt, «weil dies die von Aby Warburg am intensivsten untersuchte Periode war, sondern auch, weil sie seiner Überzeugung entspricht, dass die Vergangenheit die Gegenwart prägt».

Öffnung fürs breitere Publikum

Subtil, aber ausgesprochen wirkungsvoll wurde das Gebäude einer Transformation unterzogen. Das Architekturbüro Haworth Tompkins übernahm die Neugestaltung. Man war sorgfältig darauf bedacht, die besondere Atmosphäre des Hauses zu erhalten, wie der Architekt Nigel Hetherington erklärt. Zusätzliche Archivräume entstanden, und für die inzwischen 360 000 Bände umfassende Bibliothek wurde mehr Platz geschaffen, teilweise durch die Versetzung von Bücherregalen, die nun auf dunkelrotem Linoleum anstelle von abgeschabten Teppichböden stehen.

Vor allem aber öffnete sich das normalerweise nur für Fachstudenten und ausgewiesene Interessenten zugängliche Institut in Massen der Öffentlichkeit: Der Eingang wurde klar strukturiert, die Terrazzo-Böden blieben erhalten. Eine dahinter liegende Reihe von Büros hinter einem dunklen Korridor wich einer für jedermann zugänglichen Ausstellungsgalerie, die sich der Geschichte des Warburg-Instituts widmet. An ihrem hinteren Ende fand die «Bibliothek des Exils» – ein Werk und Geschenk des Künstlers Edmund de Waal – mit Büchern von Exilautoren eine neue und endgültige Heimat.

Die Fenster im Eingangsfoyer geben den Blick frei auf den neuen Lesesaal des Archivs. Von dort aus ist das ebenfalls neue Auditorium zu sehen. Es entstand im bisher ungenutzten Innenhof und ist gewissermassen das Herzstück des Hauses: ein einladender Hörsaal mit luxuriös anmutender dunkler Holztäfelung, der von Lichtschächten auf zwei Seiten beleuchtet wird.

Der Raum wird von einem elliptischen Betonlichtdach gekrönt. Dieses ist dem Lesesaal des Warburg-Hauses in Hamburg, einer 1995 gegründeten Einrichtung der Universität Hamburg sowie der Aby-Warburg-Stiftung, nachempfunden. Die Ellipse war für Warburg ein wichtiges Symbol, das für Begriffe wie Freiheit und ständiges Pendeln zwischen Denken und Forschen steht. Der neue Hörsaal soll für öffentlich zugängliche Veranstaltungen genutzt werden.

Dass das Warburg Institute nun frisch renoviert in die Zukunft blicken kann, ist keine Selbstverständlichkeit. Im November 1944 war die Bibliothek in die Universität London eingegliedert worden, wobei die Universität versprach, künftig für ihren Unterhalt aufzukommen, und ihr zugleich Eigenständigkeit garantierte: Die Unabhängigkeit des Instituts war in der Stiftungsurkunde festgeschrieben; es wuchs und gedieh.

In den nuller Jahren aber begann eine Krise, die sich um 2014 zuspitzte. Die Universität wollte sich das Warburg Institute einverleiben. Mitglieder der Familie Warburg gewannen einen langjährigen Rechtsstreit, und die Universität London sicherte dem Institut die längst überfällig gewordene Renovierung zu, die nun abgeschlossen ist.

Bill Sherman erinnert an eine andere dem Institut zugrunde liegende, viel ungewöhnlichere Abmachung, an die sich beide Verhandlungspartner standfest hielten: Im frühen Teenageralter hatte Aby Warburg seinem Bruder das Recht des Erstgeborenen, die familieneigene Bank zu übernehmen, abgetreten. Im Gegenzug sollte dieser jedes Buch finanzieren, das sich Aby wünschte. Der Handel hatte Bestand – wobei sich der Bruder sicher nicht träumen liess, dass Aby Warburg sich mehr als 60 000 Bücher zulegen würde.

Seine Bibliothek gilt als ein fundamentaler Bestandteil des Warburgschen Werks. In ihr fand seine visionäre, fachübergreifende Denkweise ihren Ausdruck. Schon ihr thematisch-assoziatives Ordnungssystem ist einzigartig. Die Bände sind «dem Gesetz der guten Nachbarschaft» gehorchend sortiert. Die Erweiterung und Renovierung des Warburg Institute hat die vollständige Wiedereinführung seines Katalogisierungssystems ermöglicht: dies mit vier Etagen, die jeweils den Stichworten «Bild», «Wort», «Orientierung» und «Handlung» gewidmet sind. Die «Warburg Renaissance» ist das Happy End einer langen Vorgeschichte.

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