Samstag, November 23

Ein Sommersturm, ein hochfahrbarer Kiel und ein 75 Meter hoher Mast – war dies die tödliche Kombination, die zum Untergang der «Bayesian» führte? Ein erfahrener Segler und Unfallanalyst beleuchtet die technischen und menschlichen Faktoren, die zur Katastrophe beitrugen.

Mitte August sank vor der Küste Siziliens die Segeljacht «Bayesian» des Tech-Milliardärs Mike Lynch. Sieben Personen kamen dabei ums Leben. Noch ist unklar, weshalb das grosse Schiff so schnell unterging. Die Ermittlungen dazu sind im Gang.

Jan-Erik Kruse ist erfahrener Offshore-Segler. Als Autor des Buches «Yachtunfälle – Gefahren erkennen, Risiken minimieren» hat er Unfälle mit Segeljachten aus aller Welt genau analysiert. Und als erfahrener Lufthansa-Langstreckenpilot findet er auch Parallelen zu Flugunfällen.

Jan-Erik Kruse, was ist wirklich auf der «Bayesian» passiert, dass es zum Kentern und Sinken der Luxusjacht kommen konnte?

Ich möchte mich gar nicht an Spekulationen zu den Details beteiligen, solange die Untersuchungsberichte noch nicht vorliegen. Es gibt zwei Untersuchungen: eine der Staatsanwaltschaft Palermo zur Schuldfrage für Kapitän und Besatzung aus strafrechtlicher Sicht, eine zweite der britischen Seeunfall-Untersuchungsbehörde zum gesamten Ablauf der Katastrophe, aus dem Aspekt der maritimen Fragen. Der britische Untersuchungsbericht ist in der Regel aus Sicht der Jachtszene viel spannender als die Feststellung der Schuldfrage, denn da werden Details zur Konstruktion und Ausstattung der Jacht erörtert, aber auch die Abläufe des Personals, das Verhalten der Crew – etwa welche Verfahren angewendet wurden, welche nicht.

Sie sind als Airbus-Pilot auch mit Untersuchungen zu Flugunfällen vertraut. Sind solche Unfallberichte vergleichbar mit denen einer Luxusjacht?

Das ist in der Tat vergleichbar. Aus historischer Sicht gibt es die Seeunfall-Untersuchungen schon länger als die in der Luftfahrt. Irgendwann wurde in der Luftfahrt die Klärung der Unfallursachen von der der Schuldfrage entkoppelt. Mittlerweile ist auch der maritime Sektor so weit, dass er die beiden Themen getrennt betrachtet.

Und doch ist die Betrachtung der Verantwortung der handelnden Personen etwas, das interessiert.

Ich lade gerne zum Gedankenexperiment ein: Wäre das Unglück der «Bayesian» nicht passiert, wenn ein anderer Skipper an Bord gewesen wäre? So entfernt man sich etwas von der individuellen Verantwortungsfrage, die jeder Schiffsführer nun einmal hat. Im Fall der «Bayesian» hätte ich zumindest Zweifel, dass ein anderer Skipper das Kentern mit Sicherheit hätte verhindern können.

Warum?

Ein vergleichbares Wettersystem zog wenige Tage vor dem «Bayesian»-Zwischenfall über die Balearen. Dort strandeten mehrere Dutzend Jachten, darunter auch die 30 Meter lange Super-Luxusjacht «Wally Love». Bei ihr war sicherlich eine professionelle Besatzung an Bord, der es ebenfalls nicht gelang, die Gefahren des Wetters richtig einzuschätzen. Es kam hier zum Glück nicht zu Todesfällen.

Wenn Sie Staatsanwalt bei der «Bayesian»-Untersuchung wären, welche Fragen würden Sie dem Kapitän und der Crew stellen?

Ich würde die Crew fragen, was sie in der Unglücksnacht wahrgenommen hat. Wovon ging sie aus, was in den nächsten Stunden und Minuten passieren würde? Wie wollte sie auf die eintretenden Ereignisse und möglichen Gefahren reagieren? Und ich würde die Besatzung auch fragen, was ihr geholfen hätte, um die Gefahren besser einschätzen zu können.

Sie haben Erfahrung mit Seeunfall-Berichten bei Segeljachten und haben ein Buch dazu veröffentlicht. Gibt es aus konstruktionstechnischer Sicht etwas an der «Bayesian», was ein besonderes Risiko darstellte und hätte modifiziert werden müssen, um das Kentern zu verhindern?

Ich bin kein Bootskonstrukteur und kann daher nicht mit Sicherheit sagen, dass der Mast mit 75 Metern zu hoch war und die Stabilität des Boots gefährdet hat. Aber es gibt schon Dinge, die man sich genauer anschauen sollte. Das Boot verfügte über einen Kiel, den man einziehen konnte. War er voll ausgefahren, ergab sich ein Tiefgang von neun Metern und damit viel Stabilität. Da der Kiel hochfahrbar war, konnte das Boot auch in Jachthäfen einlaufen, die weniger Tiefgang erforderten. Das ist ein konstruktiver Kompromiss, der bei hochgefahrenem Kiel die Stabilität verringert.

Der italienische Werftchef, dessen Firma das Boot gebaut hatte, sprach von möglicher Wasseraufnahme durch Öffnungen im Rumpf, wenn das Boot eine gewisse Schräglage hat.

Die Aussagen sind unterschiedlich: Einmal hiess es, bei 30 Grad Schräglage nehme das Boot Wasser auf, im Raum steht aber auch die Zahl 45 Grad. Das ist im Vergleich mit anderen Segeljachten nicht gerade viel, das Risiko der unerwünschten Wasseraufnahme ist entsprechend gross.

Ist das rasche Sinken der Jacht nach der Kenterung auf einen durch die Schräglage verursachten Wassereintritt im Rumpf zurückzuführen?

Ich bin mir sicher, dass man im Hinblick auf das schnelle Sinken der Jacht auf Konstruktionsdetails stossen wird, die nicht optimal waren. Die Jacht war offenbar kein ideales Arbeitsumfeld für die Crew, um ein optimales Sicherheitsniveau aufrechterhalten zu können.

Könnte man eine Konstruktion wählen, bei der sich nicht nur der Kiel einziehen liesse, sondern zum Ausgleich auch der Mast?

Es gibt Boote, bei denen sich der Mast umlegen lässt. Bei einem Boot mit 75 Meter hohem Mast aber wäre das mit erheblichem Aufwand verbunden. Aber viele Boote dieser Grössenordnung haben nicht einen, sondern zwei Masten. Die sind nicht so hoch und verursachen weniger Stabilitätsprobleme. Aber Stabilität lässt sich immer gut im Voraus berechnen. Insofern wäre es sehr interessant zu wissen, was die Beweggründe für den einzelnen, sehr hohen Mast waren.

Ist ein Boot mit zwei Masten weniger schnell als eines mit nur einem, oder gibt es andere Nachteile?

Aus aerodynamischer Sicht ist ein Boot mit nur einem Mast effizienter, dies geht aber zulasten der Stabilität. Eine Schiffskonstruktion ist immer ein Kompromiss und bietet Zielkonflikte bei Geschwindigkeit, Seetüchtigkeit, Komfort. Ein gutes Schiff zu bauen, ist sicherlich nicht einfach.

Sie haben viele verschiedene Jachtunfälle analysiert. Gibt es Parallelen zum Unglück der «Bayesian»?

Tatsächlich ist ein solcher Unfall, bei dem eine Jacht am Ankerplatz vom Wind umgedrückt wird, kentert und untergeht, ein absolutes Novum. Das habe ich noch nie angetroffen oder dokumentiert gesehen. Es gibt aber Unfälle, die vergleichbare Bausteine enthalten wie beim «Bayesian»-Unfall. Vor einigen Jahren ist beispielsweise eine Jacht vor der Küste Korsikas tragisch verunglückt. Auch da gab es einen Sommersturm.

Was ist das Besondere an Sommerstürmen?

Sommerstürme sind besonders gefährlich, weil meist viele Boote auf dem Wasser sind und viele Segler nicht mit solch kräftigen Winden rechnen. Im Fall vor Korsika hatten Skipper und Crew noch versucht, einen Liegeplatz in einem Hafen zu bekommen. Die Häfen waren aber voll, die Crew wurde von mehreren Häfen abgewiesen und entschied sich, den Sturm an einer Boje abzuwettern. Das Boot riss sich nachts los, und bei dem Versuch, die Jacht aus der Bucht zu steuern, lief sie auf einen Felsen auf. Zwei von drei Seglern starben, einer rettete sich an Land.

Was ist die Folge, wenn ein Boot wie die «Bayesian» kentert?

Sobald ein Boot auf der Seite liegt, gibt es nur sehr wenige Handlungsoptionen. Es bleibt praktisch nur die Möglichkeit, das Innere des Bootes zu verlassen und eventuell noch an Rettungsmittel wie Schwimmringe oder aufblasbare Rettungsflösse zu gelangen. Nach Möglichkeit sollte die Kommunikation aufrechterhalten und ein Notruf abgesetzt werden. Denn aus eigener Kraft kann man sich nicht mehr retten – Hilfe zu holen, ist entscheidend.

Sinkt eine gekenterte Jacht immer?

Die meisten Jachten, die kentern, weil sie etwa den Kiel verlieren, treiben auf dem Wasser, sind aber nicht mehr in einem Zustand, in dem sie der Besatzung noch Schutz bieten können.

Sind Sie selbst schon in eine vergleichbare Notsituation geraten?

Zum Glück nicht. Ich bin auf meinen weiten Fahrten mit einem bewährten, seetüchtigen Boot gesegelt, in das ich volles Vertrauen hatte. Es war in seiner Konstruktion nicht vollkommen ausgereizt. Ich habe damit auch schweres Wetter abgewettert, hatte aber nie das Gefühl, an die Grenzen des Bootes zu kommen – eher an meine eigenen.

Es hiess, die «Bayesian» sei im Sturm vor Anker gelegen. War das ein Risiko oder eher ein Vorteil?

Ich habe diese Frage auch mit anderen Seglern diskutiert. Man kann keine eindeutige Antwort darauf geben. Im Nachhinein sagen Experten, die Jacht hätte den Anker lichten und sich unter Maschinenfahrt mit dem Bug Richtung Wind ausrichten müssen, dann wäre das alles nicht passiert. Bei Jachten dieser Grössenordnung mit 56 Metern Länge ist es vielleicht anders, aber für kleinere Jachten ist der Seegang viel gefährlicher als der Wind. In vor Seegang geschützten Buchten sind solche Boote vor Anker sehr sicher. Beim Zwischenfall in den Balearen waren die Boote aber schwerem Wellengang ausgesetzt und strandeten. Ob es ein Fehler war, die «Bayesian» vor Anker zu lassen, lässt sich nicht eindeutig sagen.

Abschliessend: Was kann man aus dem Fall der «Bayesian» lernen?

Es stellt sich die Frage, wie es zu der ausweglosen Situation kommen konnte. Was hat die Katastrophe begünstigt? Wie war das Umfeld, in dem die Besatzung gearbeitet hat? Bei solchen Superjachten kann das sehr speziell sein: Mit einem Multimilliardär als Eigner ist es wahrscheinlich nicht immer einfach, auf der Sicherheit als oberster Priorität zu beharren. Die Machtverhältnisse an Bord sollte man sich vielleicht näher anschauen. Und es lohnt sich, auch bei der Konstruktion der Jacht nach möglichen Fehlerquellen zu suchen. Auch sollte man Crew-Auswahl und -Ausbildung sowie die Besatzungsvorschrift auf Verbesserungspotenziale prüfen.

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