Sonntag, Oktober 6

Der Bruch mit dem journalistischen Ethos sorgt weltweit für Empörung, Konsequenzen hat er bis jetzt keine.

Die Reporterin Natasha Frost hat einen interessanten Lebenslauf: österreichisch-britische Doppelbürgerin, aufgewachsen in Neuseeland und Singapur, Absolventin der Universität Oxford und der New Yorker Columbia School of Journalism, einer journalistischen Kaderschmiede. Auch deshalb berichtet sie nach Gigs unter anderem bei der BBC seit 2020 für die «New York Times» aus Melbourne, Australien, wo sie zudem – Zeitverschiebung sei Dank! – den täglichen «NYT»-Newsletter «The Europe Morning Briefing» verfasst.

Fast so international ist der Medienskandal, den Frost gemäss dem «Wall Street Journal» losgetreten haben soll. Nach dem 7. Oktober 2023 trat sie einer privaten australischen Whatsapp-Gruppe bei. Deren rund 600 Mitglieder sind jüdische Bürger aus der Kreativwirtschaft und dem akademischen Milieu. Sie organisierten sich gegen den auch in Australien aufflammenden Antisemitismus. Einige Mitglieder der Whatsapp-Gruppe sollen auch die Absetzung einer Radio-Show von ABC bewirkt haben.

Die ABC-Moderatorin Antoinette Lattouf, Australierin libanesischer Herkunft, hatte in den sozialen Netzwerken Israels angebliche Aushungerung Gazas als unlauteres Kriegsmittel kritisiert und damit gegen ihre Anstellungsbedingungen verstossen.

Angriffe von Vandalen

Lattouf klagte gegen ihre Entlassung. Parallel zu diesem Verfahren inszenierten Lattoufs Unterstützer eine Kampagne. Unter anderem wurden Namen, Fotos und Adressen von Mitgliedern der Whatsapp-Gruppe veröffentlicht. Die Gruppe, so schrieb eine Anti-Israel-Aktivistin, sei ein Musterbeispiel dafür, wie «palästinensische Aktivisten und ihre Verbündeten» zum Schweigen gebracht werden sollten.

Die Folgen liessen nicht auf sich warten. Propalästinensische Aktivisten schickten den Mitgliedern der Whatsapp-Gruppe Hassbotschaften und Drohungen. Geschäfte wurden von Vandalen attackiert. Eine Lehrerin berichtete, sie sei als Mitschuldige eines «Genozids» beschimpft und bedroht worden.

Im Januar dieses Jahres berichtete Natasha Frost für die «New York Times» über die hässlichen Ereignisse. Nicht offen legte sie indes, dass sie diese mitverschuldet hatte. Wie das «Wall Street Journal» im August berichtete – und Frost bestätigte –, hatte die Journalistin 900 Seiten mit privaten Chat-Protokollen der Whatsapp-Gruppe heruntergeladen, samt Personendaten. Diese Daten teilte sie mit jemandem, mutmasslich mit der entlassenen Moderatorin Antoinette Lattouf. Diese gab das File weiter, mit den erwähnten Folgen.

Peinliche Entschuldigungen

Für die «New York Times» ist die Sache peinlich. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich die Zeitung entschuldigt hat und versicherte, Natasha Frost habe auf eigene Faust gehandelt, ohne die Redaktion einzubeziehen. Auch Frost selber hat sich für den «Fehler» entschuldigt. Sie habe, so erklärte Frost, die Daten nur an eine Person weitergegeben, der «Missbrauch» sei ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung geschehen.

Frost ist einer privaten Whatsapp-Gruppe beigetreten, ohne zuvor auf ihre journalistische Tätigkeit hingewiesen zu haben. Sie sammelte stillschweigend persönliche Daten und verbreitete sie. Das ist ein schwerer Bruch mit journalistischen Gepflogenheiten. Ob die Verletzung der Privatsphäre der Betroffenen justiziabel ist, ist unklar. Aber die australische Polizei ist seit April involviert.

Die Grenzüberschreitung der Reporterin schlägt global Wellen. Besonders amerikanische Medien fordern Konsequenzen. Die «New York Times» hat diese bis Redaktionsschluss nicht gezogen. Frost arbeitet weiter an ihrem morgendlichen Briefing für Europa. «Attacken von Israel und dem Hizbullah» lautet der Titel eines ihrer jüngsten Briefings, als wäre unklar, von wem die Aggressionen ausgingen.

Dafür erwägt die australische Regierung laut Justizminister Mark Dreyfus neue Gesetze zum Schutz der Privatsphäre, zur Veröffentlichung persönlicher Informationen und zur Strafbarkeit von Doxing, also der Veröffentlichung von sensitiven Daten gegen den Willen der Betroffenen. Das ist im Zeitalter von Wikileaks und «disinformation» ein heikles Thema, weltweit. Denn falls die neuen Regeln zu umfassend oder harsch ausfallen, würden möglicherweise auch die journalistische Berichterstattung und die Pressefreiheit eingeschränkt, auch in den sozialen Netzwerken.

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