Samstag, Oktober 12

Nurit Peled-Elhanan hat einst ihr Kind bei einem Bombenattentat eines Palästinensers verloren. Nun läuft gegen sie ein Strafverfahren – sie habe den Hamas-Terror verteidigt. Peled ist in Israel kein Einzelfall mehr.

Am 25. Oktober 2023, zwei Tage bevor die israelische Armee die Grenze zu Gaza überschritt, schickte ein Dozent ein Video in den Whatsapp-Gruppen-Chat seines Hochschulkollegiums. Nurit Peled-Elhanan, Professorin für Komparatistik in Jerusalem, schaute es sich an, obwohl sie bereits ahnte, was sie zu sehen bekommen würde: Die Palästinenser wurden in dem Video mit den Nazis des Dritten Reichs verglichen.

Manche Dinge sind schneller geschrieben als gedacht. Peled forscht seit Jahrzehnten über politische Propaganda. Und so kam die Antwort der 74-Jährigen prompt: Das Massaker, kommentierte sie mit Bezug auf die Hamas-Terrorattacke vom 7. Oktober, erinnere sie an etwas, das der Philosoph und Antikolonialist Frantz Fanon über Rassenbeziehungen geschrieben habe: «Als nach all den Jahren, in denen die Unterdrückten unter Eurem eisernen Stiefel zu ersticken drohten, sie die Gelegenheit hatten, nach oben in Eure Augen zu blicken – welchen Blick habt Ihr da erwartet?» In eigenen Worten fügte sie an: «Diesen Blick haben wir gesehen.»

Wenige Stunden später war Peled ihre Anstellung als Hochschuldozentin los. Der Präsident der Universität bezichtigte sie in einem Schreiben des Verrats. Sie habe «Verständnis für die abscheulichen Taten der Hamas» gezeigt und sie mit dem Zitat zu rechtfertigen versucht. Die Vorlesungen von Peled wurden gestrichen. Mitte Dezember erhielt Peled ausserdem eine Vorladung von der Polizei. Eine Anzeige war gegen sie eingegangen. Der Vorwurf: Terrorunterstützung.

Nach der Hamas-Terrorattacke vom 7. Oktober werde der Raum für politische Diskussionen in Israel immer enger, sagt der Anwalt Michael Sfard, der Peled vertritt. In einem Artikel in der «New York Times» verweist er auf Informationen der israelischen Menschenrechtsorganisation Adalah (Center for Arab Minority Rights). Diese schreibt von Dutzenden Studierenden und Dozentinnen, die in den letzten Monaten von israelischen Hochschulen ausgeschlossen worden seien, weil sie – vornehmlich in den sozialen Netzwerken – die israelische Regierung für ihr hartes Vorgehen gegen die palästinensische Bevölkerung kritisiert hätten.

Doch nicht nur Bildungsinstitutionen reagieren hart auf Sympathiebekundungen für Palästina. Zwei Wochen nach der Hamas-Terrorattacke meldete die israelische Staatsanwaltschaft die Eröffnung von 126 Strafverfahren wegen «Terrorunterstützung», darunter 110 Festnahmen. Ein «Guten Morgen» mit einem Sonnengesicht im Klassen-Chat am 8. Oktober oder eine Koransure auf Facebook, von denen jemand einen Screenshot anfertigt und den Behörden schickt: Das reiche schon für eine Anzeige, schreibt Sfard. Am häufigsten betroffen seien palästinensische Israeli.

«Ich wollte eigentlich nicht in Israel bleiben. Ein schreckliches Land, um Kinder aufzuziehen.»

Peled ist eine von einer Handvoll jüdischer Israeli, die wegen ihrer kritischen Haltung die Stelle verloren haben. Doch das ist nicht das einzige, was an ihrer Geschichte bemerkenswert ist: Ihr Leben ist durch denselben palästinensischen Terror geprägt, den sie jetzt angeblich verteidigt. Im Herbst 1997 war ihre Tochter Smadar in Jerusalem unterwegs, um Schulbücher zu kaufen. Der Zufall wollte es, dass sie sich in der Nähe eines palästinensischen Selbstmordattentäters auf der Einkaufsstrasse Ben Yehuda aufhielt. Der Mann riss die 14-Jährige und Dutzende andere Menschen mit sich in den Tod.

Darüber will Peled nicht mehr reden. Zumindest nicht öffentlich. Das sagt sie nach über einer Stunde im Video-Call mit der NZZ. Sie sitzt in der Küche ihrer Ferienwohnung in Athen, hinter ihr eine gerahmte Malerei, eine Melange aus Hellschwarz. Peled hat taubengraue Locken und einen kühlen Blick. Ihre Erinnerungen an die letzten vierzig Jahre ihres Lebens sind düster. «Ich wollte eigentlich nicht in Israel bleiben. Ein schreckliches Land, um Kinder aufzuziehen», sagt sie. Im Hintergrund klappert ihr Mann mit Geschirr, vielleicht macht er den Abwasch, vielleicht will er zuhören, was seine Frau der Journalistin aus der Schweiz erzählt. «Mein Mann wollte nicht weg», sagt sie. Es klingt hart. Aber nicht gerade so, als würde sie ein Ehegeheimnis verraten.

Rami Elhanan, ihr Mann, wollte auch deshalb nicht weg, weil er sich verantwortlich fühlt für den Frieden in seinem Land. Nach dem gewaltsamen Tod von Smadar gründete er den Parent Circle, eine Organisation bestehend aus Eltern beider Seiten – der palästinensischen und der israelischen –, die etwas gemeinsam hatten: Kinder, die im Krieg oder durch Terror ihr Leben verloren hatten. Immer wieder tritt er zusammen mit seinem palästinensischen Freund Bassam Aramin in Medien der ganzen Welt auf. Aramins Tochter starb, nachdem sie von einem Gummigeschoss eines israelischen Soldaten schwer verletzt worden war. Die beiden Männer waren zu dem Zeitpunkt schon befreundet. Als Rami Elhanan die Nachricht erhielt, fuhr er zu dem Krankenhaus, in dem Aramins Tochter um ihr Leben kämpfte.

Den Schmerz des anderen anzuerkennen. Sich nicht vom eigenen Leiden zum Hass verleiten zu lassen. Es ist die Überlebensstrategie des Ehepaars Peled-Elhanan. Weiss Gott kein einfaches Vorhaben. Gerade nach dem 7. Oktober. «Die meisten meiner Freunde, die sich früher für die Rechte von Palästinenserinnen einsetzten, unterstützen jetzt das Vorgehen unserer Armee in Gaza», sagt Peled. «Sie meinen, dass sie nach dem Holocaust, dem vererbten Trauma unseres Staats, wieder zu Opfern wurden.» Peled fühlt sich nicht als Opfer. Aber sie hat eine klare Meinung dazu, wer hier Täter ist. «Es sind die Israeli, die gerade Tausende von Kindern töten, nicht die Juden», sagt sie.

Den Kindern Israels gilt die ganze Aufmerksamkeit der Forscherin Peled. Sie untersuchte Schulbücher und Unterrichtsmaterialien von Generationen von Schulkindern Israels. Was die Israeli mit auf den Weg bekommen in den öffentlichen Schulen des Landes, wurde zu ihrem eigentlichen Spezialgebiet. Es brachte sie dazu, ihre eigenen Kinder in private Schulen zu schicken, wo auch Kinder von Palästinensern unterrichtet werden – in beiden Sprachen. «Die öffentlichen Schulen Israels haben einen segregierten Unterricht», erklärt Elhanan. So sei es keine Besonderheit, wenn die einstigen Kinder beim Militärdienst die ersten Palästinenser zu Gesicht bekämen.

Dann, sagt Peled, hätten Israeli eine Bildungskarriere hinter sich, die sie auf einen gemeinsamen Feind eingeschworen habe und den Staat Israel mit seiner Armee als einzigen Schutz darstelle. «Israels Kinder lernen heute schon mit drei Jahren, wen sie fürchten müssen: die Palästinenser. Diese werden als unterentwickelt, antimodern und integrationsunfähig dargestellt.» Mit dem Narrativ des stets drohenden Holocaust würden Kinder heute früh in Kontakt gebracht und «traumatisiert», sagt Peled. Über das Thema des israelischen Bildungssystems hat sie ein preisgekröntes Buch publiziert, das demnächst auf Deutsch erscheinen soll.

Peled gehört mit ihrer Einstellung zu einer verschwindenden Minderheit. «Ausgestorbenen Minderheit», korrigiert sie.

Ihre Familie hat Peled in einem Interview einmal als links-zionistisch beschrieben. Peled wurde im Mai 1949 geboren, als der Staat Israel ein Jahr alt war und sich im ersten von vielen Kriegen mit den Anrainerstaaten befand. Die Unterschrift von Peleds Grossvater findet man unter der Unabhängigkeitserklärung von Israel. Der Vater Matti Peled war ein bekannter General in der israelischen Armee und leitete an der Universität von Tel Aviv die Abteilung für Arabische Sprache und Literatur.

«Ich bin keine politische Person», antwortet Peled auf die Frage, wo sie sich im politischen Spektrum verordne. Nein, ganz sicher nicht rechts, aber auch nicht links, jedenfalls nicht mehr. Als junge Frau, bevor sie Israel fürs Studium verlassen habe, habe sie sich als linke Zionistin beschrieben. Das habe sich verändert, nachdem sie sich mit der Geschichte des palästinensischen Volkes und dessen Vertreibung nach der Staatsgründung von Israel befasst habe. «Seither stehe ich für alle Unterdrückten ein und für die Schwachen.» Und das, fügt sie fast trotzig an, sei nicht links. Es sei menschlich. Im Übrigen einer der wichtigsten Grundwerte des jüdischen Kosmopolitismus: mitfühlen mit jenen, die verfolgt werden. Die keinen Platz in der Welt haben, weil die Welt sie keinen haben lässt.

Peled gehört mit ihrer Einstellung zu einer verschwindenden Minderheit Israels. «Ausgestorbenen Minderheit», korrigiert sie während des Interviews. Ob sie auch Momente der Verzweiflung erlebe nach den Ereignissen des 7. Oktober? «Ich bin seit vierzig Jahren verzweifelt», erwidert Peled.

Und dann erzählt sie von ihrem 12-jährigen Enkel, der in Haifa eine gemischte Schule besucht und Arabisch lernt. Der Bub habe sich neulich genervt über eine Spielkameradin, die bei jeder Gelegenheit in Tränen ausbreche. Seine Mutter habe ihm erklärt, dass seine Freundin eben sensibler sei als er. Der Bub habe erwidert: «Wie kann man sensibel sein in einem Land wie diesem?» In Peleds Stimme schwingt Stolz mit, als sie die Anekdote erzählt, zum ersten Mal erhellt ein Lächeln ihr Gesicht.

Peled bleibt vorerst eine Weile in Athen, sie mag die Stadt. «Hier hängen an den Wänden Fotos von Kindern, die in Gaza getötet wurden – nicht nur Bilder der Hamas-Geiseln», sagt sie. Undenkbar in Israel. Dort schaffe man gerade die Meinungsfreiheit ab, sagt Peled. Sie wisse nicht, wer eigentlich Anzeige erstattet hat bei der Polizei und warum genau. Aber nachdem der Bildungsminister dazu aufgerufen habe, fehlbare Personen zu melden, seien die Spitzel überall. Vor allem in Gruppen-Chats. «Laut einem Zeugen habe ich ein Video verschickt, in dem die Taten der Hamas verherrlicht wurden», sagt sie. Beweise gebe es keine. Das Video habe man auch nicht gefunden.

Inzwischen hat sich eine Gruppe von Kolleginnen an ihrer Hochschule für ihre Wiedereinberufung eingesetzt. Peled weiss noch nicht, ob sie zurückkehren wird.

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