Sonntag, September 8

Der Prozess zum Attentat auf Wladlen Tatarski in einem St. Petersburger Café lässt eine zentrale Frage offen. Die Verurteilte selber fühlt sich hinters Licht geführt.

27 Jahre Arbeitslager – mit diesem Strafmass ist am Donnerstag vor einem St. Petersburger Militärgericht der Prozess gegen die 26-jährige Daria Trepowa zu Ende gegangen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sie einen Terroranschlag begangen, Sprengstoff bei sich aufbewahrt und Dokumente gefälscht habe. Mit einem in einer Büste verborgenen Sprengsatz soll sie im vergangenen April Maxim Fomin alias Wladlen Tatarski in einem Petersburger Café vorsätzlich umgebracht haben. Tatarski war ein prominenter sogenannter Militärblogger und unbarmherziger Kriegstreiber.

Rund fünfzig Besucher wurden durch die Explosion verletzt und traten als Zivilkläger auf. Die Tat hatte über ultranationalistische Kreise hinaus für Entsetzen gesorgt; die Staatsanwältin sprach gar von einem «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». Noch nie hat in der jüngeren Geschichte des Landes eine Frau eine höhere Strafe erhalten. Für Frauen ist lebenslänglich, was in Russland im Wortsinn gemeint ist, nicht vorgesehen.

Folgenschwerer Kontakt

Geklärt ist der Mord an Tatarski damit nicht. Trepowa hatte zwar Reue bekundet und die Opfer um Verzeihung gebeten. Sie nahm sogar Tatarski mit der Bemerkung in Schutz, dieser sei ihr als guter Mensch vorgekommen. Dessen bekanntestes Zitat lautet: «Wir werden alle besiegen, alle töten, alle berauben, die wir müssen. Alles wird so, wie wir es gern haben.»

In ihrer Darstellung war Trepowa unfreiwillig zur Attentäterin geworden, benutzt von Drahtziehern, die Trepowas auch von Zeuginnen bestätigte Leichtgläubigkeit ausgenutzt hatten. Ihr Anwalt forderte gar das Gericht dazu auf, sie ebenfalls zur Geschädigten zu erklären. Das Verfahren sei neu aufzurollen.

Trepowa hatte kurz nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine den Journalisten Roman Popkow kennengelernt, einen früheren Aktivisten der in Russland verbotenen Nationalbolschewistischen Partei. Dieser lebt schon seit mehreren Jahren in Kiew. Trepowa hatte wegen der Teilnahme an Anti-Kriegs-Protesten im Februar 2022 zwei Wochen in Polizeihaft verbracht und wollte am liebsten in die Ukraine reisen, um dort journalistisch tätig zu sein. Sie hatte ein Medizinstudium abgebrochen, arbeitete in einem Kleiderladen und schrieb Blog-Texte.

Büste mit Sprengsatz

Ab Herbst 2022 intensivierte sich der Austausch mit Popkow. Er wollte ihr beim Umzug nach Kiew behilflich sein, dafür aber zunächst in Russland ihre Hilfe für zahlreiche zum Teil klandestine Aufträge in Anspruch nehmen. Dafür überwies er ihr Geld. Später kam eine weitere Person ins Spiel, die Trepowa nur mit dem Pseudonym «Gestalt» kennenlernte. Diese verpasste der willigen Helferin die Rolle der angeblich kriegsbegeisterten Künstlerin «Nastja Kriulina», als die sie Tatarskis Vertrauen gewinnen sollte. Trepowa war trotz gelegentlichem Argwohn bereit dazu, die Aufträge zu erfüllen.

Als eine Art Gesellenprüfung vor der von Popkow organisierten Abreise Richtung Ukraine sollte Trepowa Tatarski eine Büste überreichen. Trepowa erkannte darin eine Falle für den Blogger, liess sich aber mit der Aussage beschwichtigen, in der Skulptur sei bloss ein Abhörgerät versteckt. Bei der Übergabe im Café während der Veranstaltung blieb sie auf Wunsch des Beschenkten in dessen Nähe – Tatarskis Körper schützte sie am Ende davor, nicht selbst tödlich verletzt zu werden.

Keine Beweise der Anklage

Trepowas Erzählung wirkt durchaus schlüssig, ihre Naivität glaubwürdig. Aber ob sie wirklich die tragische Figur ist, als die sie jetzt erscheint, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen; zu schillernd ist auch ihre Biografie. Die Anklage konnte jedoch keinen Beweis dafür vorlegen, dass Trepowa vorsätzlich gehandelt hat.

Erstaunlicherweise spielten Verbindungen zur russischen Exilopposition, etwa zu den Strukturen Alexei Nawalnys, im Prozess keine Rolle, obwohl die Ermittler zunächst auch diese der Beteiligung an der Tat verdächtigt hatten. Popkow selbst hat sich in Widersprüche verstrickt, jüngst in einer Stellungnahme auf Telegram. Einerseits bestritt er Verbindungen zum Mord an Tatarski. Anderseits schrieb er nebulös von einer «Operation gegen das absolut Böse»; die wahren Hintergründe würden erst nach dem Ende des Krieges aufgedeckt.

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