Donnerstag, Juli 4

Wegen Mordes an mindestens sieben Neugeborenen sitzt eine junge Intensivpflegerin in England lebenslang im Gefängnis. Die Polizei nimmt auch die Klinikleitung ins Visier, da diese sämtliche Warnungen ignoriert hatte.

Ende August letzten Jahres wurde die englische Krankenschwester Lucy Letby wegen Mordes und versuchten Mordes an Babys in 13 Fällen zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens ist Letby nun für schuldig befunden worden, versucht zu haben, ein weiteres Neugeborenes zu ermorden. Dies teilte die britische Polizei am Dienstag mit.

Ärzte schöpfen früh Verdacht, doch das Management mauert

Lucy Letby ermordete sieben Neugeborene, bei sechs weiteren hat sie es versucht. Und möglicherweise gibt es noch mehr Opfer. Eine Jury in Manchester sprach die heute 33-jährige Frau im August letzten Jahres in dreizehn Fällen wegen Mordes und versuchten Mordes schuldig. Die ehemalige Krankenschwester muss lebenslang hinter Gitter, wobei die so sogenannte «whole life order» verhängt wurde. Das bedeutet, dass die Verurteilte nie wieder in Freiheit kommt. Letby ist erst die vierte Frau, die in Grossbritannien dazu verurteilt wurde.

Der Prozess dauerte zehn Monate, in denen Letby die Taten bis zum Schluss bestritt. Möglicherweise hat sie noch mehr Babys geschadet. Wie der «Guardian» schrieb, hätten Ermittler bisher etwa 30 weitere «verdächtige Vorfälle» während Letbys Zeit am Spital in Chester ausgemacht. Insgesamt überprüfen die Behörden die Betreuung von 4000 Neugeborenen.

Lucy Letby mordete zwischen Juni 2015 und Juni 2016 im Herzogin-von-Chester-Spital in Liverpool , wo sie in der Neonatologie arbeitete. In dieser Zeit häuften sich auf der Station die Todesfälle. Manchmal starben mehrere Babys innerhalb weniger Tage, dann lagen wieder Wochen zwischen den Mordfällen. Wie die späteren Ermittlungen ergaben, spritzte Letby den Kindern Luft, überfütterte sie mit Milch oder vergiftete sie mit Insulin.

Die Häufung der Todesfälle fiel auf. Mitarbeiter meldeten schon früh den Verdacht, dass die Krankenschwester Letby etwas damit zu tun haben könnte. Letby war jedes Mal im Dienst, als die ihr anvertrauten Säuglinge plötzlich Komplikationen entwickelten oder starben. Bereits im Oktober 2015 – nach den ersten fünf Morden – äusserte der leitende Arzt der Abteilung Bedenken gegen Letby. Doch die Klinikchefs ignorierten sämtliche Warnungen, wie eine BBC-Recherche zeigt.

Die Ärzte, die dringend vor Letby warnten, wurden gar genötigt, sich bei ihr schriftlich zu entschuldigen und einen Streitschlichter in Anspruch zu nehmen. Recherchen deuten darauf hin, dass der Klinikleitung mehr am Image des Spitals als an der Aufarbeitung der Fälle lag. Als Letby im Sommer 2016 von der Station abgezogen wurde, arbeitete sie in einem Büro, wo sie Einsicht in heikle Patientenunterlagen hatte. Als Mitarbeiter auf eine Aufklärung drängten, mauerte das Management.

Das Management versuchte, weitere Aufklärungen zu unterbinden. Erst im Juli 2018 wurde Letby zum ersten Mal festgenommen. Im November 2020 wurde endgültig Anklage erhoben.

Im Zusammenhang mit den Babymorden ermittelt die Polizei mittlerweile auch wegen gemeinschaftlichen Totschlags an dem Spital, an dem Letby die Taten beging. Im Fokus der Ermittler stehen unter anderem die Klinikleitung und Entscheidungen im Zusammenhang mit den Todesfällen.

Unermessliches Leid der Kinder und Eltern

«Letby ist ein hasserfüllter Mensch, der uns alles genommen hat.» Dies sagt ein Paar, dessen Söhne Opfer der Krankenschwester geworden sind. Die Frau war schwanger mit Zwillingen. Die Kinder kamen im Sommer 2015 etwas zu früh zur Welt, weshalb die Mutter anders als geplant im Countess-of-Chester-Spital gebar. Es war das einzige Spital, das noch Platz auf der Neonatologie hatte, wo die beiden Buben in den Inkubator mussten.

Den Kindern ging es gut, und die Familie wartete darauf, in ein Spital näher am Wohnort verlegt zu werden. Doch an einem Abend, als die Mutter in den Raum zu ihren Söhnen ging, hörte sie ein «Geräusch, das nicht von einem winzigen Baby kommen sollte», sagte sie im Prozess aus. Ein Weinen, mehr ein Schreien. Ein Geräusch, wie sie es seitdem nie wieder von einem Baby gehört habe. Als sie nach ihrem Jungen schaute, hatte er Blut rund um den Mund.

Letby ist laut der Aussage der Mutter ebenfalls im Raum gewesen, habe jedoch beschäftigt getan und gesagt, die Magensonde hätte wohl den Hals verletzt, sie solle sich keine Sorgen machen. Die Eltern hatten Letby von ihrem schwierigen Weg, Eltern zu werden, erzählt. Sie vertrauten Letby.

Der Zustand des Buben verschlechterte sich, Wiederbelebungsversuche scheiterten. Die Ärzte erklärten seinen Tod mit einer Darmerkrankung, die auf die Frühgeburt zurückzuführen sei. Sie stuften den Fall zunächst als unverdächtig ein, verzichteten auf eine Autopsie. Später stellte sich heraus, dass er an inneren Blutungen und einer Injektion von Luft in seinen Blutkreislauf gestorben war.

Letby erzählte den Eltern, sie habe beiden Babys einen Teddybär gegeben. Der überlebende Zwilling habe sich nach dem Tod seines Bruders zu dem Teddy gerollt und diesen umarmt. Sie habe diese rührende Szene fotografiert und schenke den Eltern nun das Bild. Die Eltern empfanden die Anekdote zunächst als tröstlich, bis sie wenig später realisierten, dass sich Neugeborene noch gar nicht selbst umdrehen können. Es war eine von mehreren Ungereimtheiten.

Nur 24 Stunden nach dem Tod seines Bruders war auch der andere Zwilling plötzlich in kritischem Zustand. Den Ärzten gelang es, das Kind zu retten. Sie machten eine Infektion verantwortlich. Erst zwei Jahre später erfuhren die Eltern, dass der Ernährungsbeutel mit Insulin versehen worden war. Der Sohn überlebte, trug jedoch schwere Schäden zurück und leidet heute unter anderem unter massiven Lernschwierigkeiten.

Letbys Motivation bleibt ein Rätsel

Die Gründe für die Tat bleiben ungeklärt. «Wir werden womöglich nie erfahren, warum dies passiert ist», schrieben die betroffenen Eltern der ermordeten und zu Schaden gekommenen Kinder in einer Stellungnahme. Manche Prozessbeobachter vermuteten, dass Letby möglicherweise die Aufmerksamkeit eines jungen Arztes habe erlangen wollen, in den sie verliebt gewesen sei.

Die Ermittler fanden in der Wohnung von Letby eine Notiz, auf der steht: «Ich habe sie absichtlich getötet, weil ich nicht gut genug darin bin, mich um sie zu kümmern. Ich bin ein furchtbar böser Mensch. Ich bin böse, ich habe das getan.»

Der Fall erinnert an den des deutschen Krankenpflegers Niels, der 2019 wegen Mordes in 85 Fällen zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Auch bei ihm dürfte die wahre Opferzahl noch weit höher liegen. Er hatte seine Opfer absichtlich in Lebensgefahr gebracht, um sich als Retter aufspielen zu können. Und auch in seinem Fall hatten Verantwortliche Warnungen in den Wind geschlagen.

Ebenfalls 2019 wurde im hessischen Marburg eine damals 30 Jahre alte Säuglingskrankenschwester wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie hatte drei Frühchen mit Medikamenten vergiftet.

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