Die neuen Gaza-Pläne der israelischen Regierung sind radikal. Sie dürften jahrelange Folgen haben – für die Palästinenser, für den Nahen Osten und für den jüdischen Staat. Die einzigen Gewinner sind Netanyahus rechtsextreme Koalitionspartner.
«Wir sind vor der Ziellinie», verkündete Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu am Montagabend. Die Armeeführung habe ihn informiert, dass es an der Zeit sei, im Gazastreifen die abschliessenden Schritte einzuleiten. Steht nun also, nach mehr als 19 Monaten Krieg gegen die islamistische Hamas, die Entscheidungsschlacht bevor? Wohl eher nicht. Vielmehr droht Israel in eine langfristige Besetzung des Küstengebiets zu schlittern – ein Szenario, das Netanyahu nach Kriegsbeginn noch kategorisch ausgeschlossen hatte.
Die israelische Regierung hat jüngst beschlossen, die Offensive im Gazastreifen massiv auszuweiten und dafür erneut Zehntausende Reservisten einzuziehen. Der Plan besteht offenbar darin, weite Teile des Gazastreifens militärisch zu erobern und zu besetzen. Der Grossteil der palästinensischen Bevölkerung soll in eine von Israel kontrollierte «humanitäre Zone» im Süden des Gebiets gedrängt und dort zur «freiwilligen Emigration» animiert werden. Derweil sollen die verbleibenden Hamas-Kämpfer und ihre Infrastruktur vernichtet werden.
Noch steht die Ausweitung der Kämpfe nicht fest: Israel will die Offensive erst nach Donald Trumps Besuch auf der Arabischen Halbinsel in der kommenden Woche starten. Anscheinend erhofft sich Netanyahu, mit der nun errichteten Drohkulisse und Trumps Dealmaker-Qualitäten die Hamas doch noch zur Aufgabe zu bewegen. Zwar hatte der amerikanische Präsident noch vor seinem Amtsantritt eine Waffenruhe durchgeboxt. Inzwischen scheint er allerdings das Interesse an der verfahrenen Lage weitgehend verloren zu haben und gewährt stattdessen den Israeli freie Hand.
Es droht ein langer Guerillakampf
Es ist die Hamas, die die Schuld an diesem Krieg trägt. Wären die Islamisten rationale Akteure, hätten sie längst kapituliert, die Waffen niedergelegt und wären ins Exil gegangen. Doch nicht zuletzt mit dem Diebstahl und der Verteilung von Hilfsgütern ist es ihnen gelungen, sich an der Macht zu halten. In ihrem grenzenlosen Fanatismus sind sie anscheinend gewillt, die zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens mit sich ins Verderben zu reissen. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass sich die Terroristen noch in letzter Minute den Bedingungen der Israeli beugen.
Gleichzeitig scheint die israelische Führung inzwischen jegliche Zurückhaltung abgelegt zu haben. Mit einer mehr als zwei Monate dauernden Blockade aller Hilfsgüter hat Israel eine Hungerkrise herbeigeführt und verstösst damit möglicherweise gegen das Völkerrecht. Die nun beschlossenen Pläne für den Gazastreifen sind noch radikaler und könnten langfristige Folgen haben – für die Palästinenser sowieso, aber auch für Israel.
Selbst wenn die Eroberung des Gazastreifens nur als temporäres, taktisches Manöver angedacht sein sollte, ist die Gefahr gross, dass eine solche Operation in einer langfristigen Besetzung des Gebiets mündet. Ohne einen konkreten Plan für eine Nachkriegsordnung würde sich Israel die Verantwortung für den Küstenstreifen aufbürden und sähe sich mutmasslich mit einem langen Guerillakampf konfrontiert. Ein solches Szenario verschlänge während Jahren massive militärische und finanzielle Ressourcen, die andernorts fehlen würden.
Auch die von Netanyahu und Trump angestrebte Normalisierung der Beziehungen mit Saudiarabien wäre unter diesen Umständen wohl nicht zu erreichen. Das Verhältnis zu den arabischen Nachbarn und auch den europäischen Partnern würde arg strapaziert. Dabei kann Israel kein Interesse daran haben, sich regional und international zusätzlich zu isolieren.
Es gibt nur noch schlechte Lösungen
Nicht zuletzt würden eine Besetzung des Gazastreifens und die damit verbundenen Konsequenzen die Spaltung der israelischen Gesellschaft vertiefen. Bereits jetzt ignorieren Tausende israelische Reservisten ihre Einberufungsbefehle. Rund 70 Prozent der Israeli fordern ein Ende des Krieges und die Heimholung der 59 Geiseln, die die Hamas noch festhält. Netanyahu schenkt diesem Teil der Bevölkerung kein Gehör. Jüngst hat er verkündet, die Rettung der Verschleppten sei zwar wichtig, aber der Sieg über die Hamas sei wichtiger. Für viele Israeli steht fest, dass die neuen Gaza-Pläne für die noch lebenden Geiseln ein Todesurteil sind.
Israels Ziel, die Hamas zu vernichten, ihre Schreckensherrschaft zu beenden und den Gazastreifen zu befrieden, ist legitim. Theoretisch kann es dies schon erreichen – die Amerikaner etwa hatten mit einer achtjährigen Besetzung Bagdad befriedet. Doch im Gegensatz zu den USA hat Israel keine Berufsarmee, sondern muss sich auf seine Reservisten verlassen, die im zivilen Leben die israelische Wirtschaft auf Kurs halten. Und: Israel hat sich bislang nie ernsthaft darum gekümmert, eine politische Alternative zur Hamas aufzubauen.
Es ist fraglich, ob die Regierung von Benjamin Netanyahu zu einer Kurskorrektur fähig ist. Der Ministerpräsident hat sein politisches Schicksal an die rechtsextremen Parteien in seiner Koalition geknüpft, die kein Ende dieses Krieges sehen wollen und jederzeit das Ende seiner Regierung erzwingen können. In der gegenwärtigen Lage sind sie die einzigen Gewinner: Ihr Ziel, in einem von Palästinensern gesäuberten Gazastreifen jüdische Siedlungen zu errichten, rückt näher.