Montag, Oktober 21

Er wurde von den Russen wegen angeblicher Spionage verhaftet, der Westen tauschte ihn frei. Über einen Mann, dem nur noch die Hoffnung auf Veränderung bleibt.

German Moyzhes ist zu einer Frage der Perspektive geworden. Ist er ein Spion? Für Russland ja, für den Westen nein. Ist er ein politischer Aktivist? Ja. Hat er sich mit der Staatsmacht arrangiert? Er musste. Wer weiss schon, wie das zusammenpasst. Nur eines ist sicher: In Moyzhes’ Leben hat sich die Weltpolitik geschlichen. Ob er das nun wollte oder nicht.

Ende Mai wurde der deutsch-russische Doppelbürger vom russischen Geheimdienst festgenommen, er wurde verhört, inhaftiert und zwei Monate später im August im Rahmen des grössten Gefangenenaustauschs seit Ende des Kalten Krieges wieder freigelassen. Was dazwischen geschah, ist unklar. Moyzhes will sich dazu nicht äussern.

Trotzdem hat sich Moyzhes entschieden, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Es ist die Geschichte einer Liebe zu einem Land, das ihn verstossen hat und das ihm nun so unerreichbar fern liegt, dass es schmerzt. Was will Moyzhes denn? Ein neues Russland.

«Ich möchte ein demokratisches Russland, das sich Europa zuwendet», sagt er. Dafür brauche es eine starke Zivilgesellschaft, die das Land von innen heraus transformiere. Diese habe er in Russland stärken wollen. Jetzt muss er aus der Ferne zuschauen.

Eine Stadt, ein Freund, eine Flasche Wodka

Moyzhes wurde in St. Petersburg geboren, als die Stadt noch Leningrad hiess. Er ist bei seiner Mutter und seiner Grossmutter aufgewachsen, 1995 zog die Familie dank einem Auswandererprogramm für jüdische Sowjetbürger nach Deutschland. Moyzhes war damals zehn, die Armut in Russland gross, die Zukunft im Westen erschien verheissungsvoll. Und es stimmte. Moyzhes machte Abitur, studierte Jura, bekam den deutschen Pass. Doch seine Heimat liess ihn nie los.

Wenn Moyzhes von seinen schönsten Kindheitserinnerungen spricht, erzählt er von einem Ferienlager in Russland. Lagerfeuer, der erste Alkohol, Übernachten bei den Mädchen im Zelt. Der Mond schien damals hell über seinem Russland. Nachdem die Familie ausgewandert war, ging Moyzhes immer wieder zurück, oft allein, zwei Tage im Bus, Sommerferien auf der Datscha seiner Tante. Als er erwachsen war, machte er sich selbständig und half fortan Menschen beim Auswandern aus und nach Russland. Er zog zurück nach St. Petersburg, in die Stadt seiner Sehnsucht.

Moyzhes ist 39 Jahre alt, St. Petersburg liegt für ihn nun hinter einer harten Grenze. Zurück nach Russland zu reisen, wäre für ihn zu gefährlich. Deswegen Neuanfang in Köln. Doch wie beginnt man ein neues Leben, das man gar nicht möchte? Moyzhes besucht Freunde, in England, Israel, der Schweiz. Um in Ruhe zu verstehen, was ihm passiert ist. Sein Schweizer Freund hat ihn dazu ermutigt, seine Geschichte zu erzählen, der Freund hat dafür Vorträge an einem Gymnasium und mehreren Hochschulen in der Schweiz organisiert, er lädt für ein Interview zu sich nach Hause ein.

Auf dem Esstisch steht eine Flasche finnischer Wodka, russischen gibt es wegen der westlichen Sanktionen nicht mehr. 1953 steht auf dem Etikett. «Es ist ein wichtiges Jahr für Russland, Stalin starb 1953», sagt Moyzhes. Dann erhebt er sein Glas zum Anstossen: «Sonst habe ich keine Kraft zu sprechen.» Er lacht. Irgendwann, zwischen zwei Gläsern, sagt er: «Der Krieg hat so viel zerstört. Es zerreisst mich.» Am Ende des Abends wird die Flasche fast leer sein.

Moyzhes will die Perspektive wechseln

Warum Moyzhes im Mai ins Gefängnis kam, kann er nur vermuten. Er setzte sich für mehr Velowege in St. Petersburg ein, veranstaltete in seiner Wohnung Musikabende, in denen auch verbotene Künstler auftreten durften. Doch daran habe es nicht gelegen, sagt er. Moyzhes ist Mitglied der oppositionellen Jabloko-Partei, international gut vernetzt, ging in Botschaften ein und aus. Die Behörden warfen ihm Landesverrat vor. «Später stimmten sie mit mir darin überein, dass ich sicher kein James Bond sei», sagt Moyzhes. Er fügt hinzu: «Das haben sie wirklich so gesagt.»

Der «Kölner Stadt-Anzeiger» berichtete kurz nach der Verhaftung von Spekulationen, dass Moyzhes für einen Gefangenenaustausch inhaftiert worden sein könnte. Botschaftskontakte, deutscher Pass, jüdischer Glaube, in der Logik des Gefangenengeschäfts ist das viel wert.

Tatsache ist: Am 1. August, zwei Monate nach seiner Verhaftung, wurde Moyzhes mit fünfzehn anderen politischen Häftlingen gegen acht russische Inhaftierte ausgetauscht, unter ihnen der «Tiergartenmörder» Wadim Krasikow. Wenn man denn so rechnen will, ist Moyzhes doppelt so viel wert wie ein Russe. Der Einzelne wird zur Verhandlungsmasse in diesem unwürdigen System.

Moyzhes will die Perspektive wechseln. «Ich habe Leute in diesem System kennengelernt, die menschlich waren», sagt er. Während der wöchentlichen Verhöre hätten sie ihm Kaffee und Whiskey angeboten, ihn respektvoll behandelt. Er sass im Lefortowo-Gefängnis, einem der «komfortabelsten» Gefängnisse Russlands, wie er sagt.

Doch Moyzhes hat auch die Brutalität des Systems erlebt. Einige «Spuren» seien auch nach dem Gefangenenaustausch geblieben. Fragt man nach, was das bedeuten solle, verstummt er: «Es war unvergesslich, sagen wir mal.» Moyzhes spielt mit seinen Händen. Die Brutalität sei nur am Anfang geschehen. Ein paar Minuten später wird er sagen: «So würden es viele Ermittler auch im Westen machen, wenn sie denn dürften.» Moyzhes vermeidet im Gespräch Augenkontakt, er schaut dann im Raum umher, als suche er etwas.

Moyzhes’ Geschichte ist voller Leerstellen. Er weicht Fragen aus, auf andere findet er keine Antworten. Wieso verteidigt er denn Russlands Gefängnissystem, das er mit all seiner Gewalt erlebt hat? Moyzhes kann es nicht erklären.

Er hat im Verhörraum gestanden, was ihm vorgeworfen wurde. Widerstand sei vor russischen Staatsbeamten zwecklos. «Bist du gegen sie, riskierst du, in völlige Isolation zu kommen. Kooperierst du, sind sie freundlich, und du hast ständigen Kontakt mit deinen Angehörigen.» Moyzhes hat kooperiert. Und so sagt er über seine Haft: «Es hätte doch viel schlimmer kommen können.» Es ist ein Satz, den er im Laufe des Gesprächs mehrfach wiederholt.

Moyzhes will kein Opfer sein. Er sagt, er habe keine Angst. Doch was soll Moyzhes sagen? Der russische Staat hat ein System aufgebaut, in dem der Bürger nur die Ohnmacht kennt. Ein Teil von Moyzhes’ Familie und enge Freunde leben in Russland. «Zu viel Gerede könnte denen schaden, die noch dort sind», sagt er. Moyzhes spricht bedächtig. Es ist alles, was er tun kann.

«Die gegenwärtige Politik des Westens entzweit die Menschen in West und Ost», sagt Moyzhes. Sie mache die Menschen zu Feinden. Im Krieg sind die Fronten klar, Moyzhes kritisiert diese scheinbare Eindeutigkeit.

Viele Sanktionen gegen Russland seien nicht zielgerichtet, Grenzschliessungen zum Beispiel. Oder die Weisung, dass Russen weder ausländische Kreditkarten noch Konten mit mehr als 100 000 Euro halten dürften. Die Sanktionen gelten für Unterstützer des Regimes, für dessen Gegner, für alle. Das passe in Putins Kriegspropaganda, dass der Westen antirussisch handle, dass er sein Wohl im Unwohl Russlands suche.

In Russland mache jetzt eine historische Analogie von sich reden, sagt Moyzhes: Früher habe man dafür kämpfen müssen, Russland verlassen zu dürfen, erzählen die Leute, jetzt lasse der Westen kaum jemanden mehr hinein. Da ist sie wieder, die russische Ohnmacht. Als Gefühl sitzt sie tief in den Menschen.

Moyzhes mag mit seiner Kritik recht haben, doch er lässt die Perspektive des Westens aussen vor. Dieser setzte jahrelang auf Verständigung, das Regime in Moskau wurde trotzdem stärker, dann kam der Angriffskrieg gegen die Ukraine. Moyzhes sagt: «Ich weiss nicht, wie es funktionieren soll, aber wir sollten mehr auf Freundschaft setzen.»

Die Datscha ist sein Sehnsuchtsort

Er trinkt einen letzten Schluck Wodka, dann zitiert er Heinrich Heine: «Denke ich an Russland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.» Moyzhes sagt «Russland» statt «Deutschland». Heines Vision eines demokratischen Deutschland sollte sich erst nach seinem Tod erfüllen.

Moyzhes glaubt daran, dass sich Russland einmal verändern kann, wenn es sich zu seinen europäischen Wurzeln bekennt. «Ich bin ein europäischer Russe», sagt Moyzhes. Er sagt auch: «Ich vermisse meine Datscha.» Trinken, essen, diskutieren in einem Häuschen im Grünen. Dort, wo einem nur die Bäume lauschen. Die Datscha ist der vielleicht russischste Ort Russlands. Moyzhes möchte dorthin zurück.

Exit mobile version