Samstag, Oktober 5

Eine Geschichte über eine rätselhafte Tat und Zivilcourage.

Es hätte ein ganz normaler Arbeitstag werden sollen für Mirco Brühwiler. Der Mitarbeiter des Zürcher Migrationsamts freut sich an diesem Dienstag auf ein Mittagessen mit seiner Frau.

Doch es kommt alles ganz anders: Ein 23-jähriger Student aus China greift bei einem Kinderhort direkt vor Brühwilers Büro in Zürich Oerlikon mehrere Kinder mit einer Stichwaffe an. Drei fünfjährige Knaben werden bei der Messerattacke verletzt. Einen der Knaben müssen die Rettungskräfte mit schweren Verletzungen ins Spital bringen. Inzwischen befinden sich alle drei Kinder ausser Lebensgefahr.

Es ist eine Tat, die Mirco Brühwiler zum Retter werden lässt.

«Wenn es eine Heldin gibt, dann ist es diese Frau»

Es ist kurz nach zwölf Uhr, als der 38-Jährige merkt, dass etwas anders ist als sonst. Auf der Terrasse unter dem Fenster seines Büros im Zürcher Migrationsamt sind wie jeden Tag Kinder eines nahe gelegenen Horts zur Mittags- und Nachmittagsbetreuung unterwegs. Normalerweise hört Brühwiler sie singen und johlen.

Doch nun schreien sie unvermittelt und rufen um Hilfe. Brühwiler schaut hinaus auf die Terrasse – und sieht Kinder, die zu ihren Betreuerinnen rennen, alles wirkt panisch. Der 38-Jährige öffnet das Fenster, fragt, was los sei. Er hört eine Frau rufen: «Da hat einer ein Messer.»

Brühwiler eilt hinaus. Schon draussen befindet sich sein Arbeitskollege Roman Fontana, der die Betreuerinnen unterstützt. Brühwiler sieht einen jungen Mann auf dem Boden sitzen. Der Chinese murmelt auf Englisch etwas vor sich hin. Brühwiler hört, wie der Täter zu sich selber sagt, er sei ein schlechter Mensch. Immer wieder spricht der Täter von Taiwan und von seiner Heimat China.

Taiwan, China und unerwiderte Liebe: Es waren auch zentrale Themen in den letzten Posts des jungen Mannes in den sozialen Netzwerken. Einige Tage vor der Tat veröffentlichte er auf Instagram einen wütenden Post über den Inselstaat. «Schande über die Unabhängigkeit Taiwans. Die Provinz gehört zu China», kommentierte er eine Veranstaltung der Universität Zürich.

Und nur Minuten vor seiner Tat postete er einen wirren Brief über unerwiderte Liebe, sexuelle Phantasien und Nationalstolz.

Das alles weiss Brühwiler in dem Moment nicht. Ihn interessiert einzig, was er sieht. «Ich dachte, ich muss den Typen aufhalten, die Kinder müssen in Sicherheit gebracht werden.» Brühwiler sieht auf die Hände des Täters, sie sind frei. Kein Messer.

Brühwiler erklärt dem jungen Mann, er werde ihn nun kontrollieren. «Er war in einer völligen psychischen Ausnahmesituation. Bevor ich ihn anfasste, sagte ich ihm, dass ich ihn nun zu Boden führen werde. Dann zog ich ihm die Brille ab und habe ihn abgetastet.»

Seinen Bürokollegen weist er an, sich um die Kinder zu kümmern.

Brühwiler sagt: «Ich fragte dann, wo das Messer sei. Eine Frau, ich kann mich nur noch an ihre Gummistiefel erinnern, sagte, sie stehe mit dem Fuss darauf.» Erst später wird Brühwiler erfahren, dass die Hortleiterin den jungen Mann von weiteren Messerstichen abhalten konnte. Die Frau hatte den Täter gepackt und ihn weggeschubst. Dass er ein Messer in der Hand hatte, wusste sie nicht.

Brühwiler sagt deshalb: «Wenn es eine Heldin gibt in diesem Fall, dann ist es diese Frau.»

Als Polizist in viele Abgründe geblickt

Mirco Brühwiler wächst im ostschweizerischen Wil auf. Nach seiner Zeit in der Armee und der Ausbildung zum Personenschützer wird ihm klar: Er will Polizist werden.

Zum Polizeiberuf kommt Brühwiler über Umwege. In St. Gallen weist man ihn zunächst ab, weil er zu wenig gross ist für den Dienst. So geht er nach Bern, wo man diese Regel schon abgeschafft hat. Für Brühwiler ist es ein erfüllender Job: helfen, etwas tun für die Gesellschaft. Zuerst in Bern und dann bei der Kantonspolizei St. Gallen.

Bei seinen Einsätzen blickt er in viele Abgründe. Manches geht ihm auch heute noch nah: «Tötungsdelikte in der Familie oder Fälle von Kinderpornografie. Solche Sachen vergisst man nicht.» Er habe aber auch immer wieder sehr schöne Geschichten erlebt. Etwa, wenn er und seine Kollegen vermisste Kinder zu den Eltern hätten zurückbringen können.

In den letzten Jahren bei der Polizei kommt ein neues Spezialgebiet hinzu: Migrationskriminalität. Brühwiler bearbeitet Fälle, bei denen junge Frauen als Nannys ausgebeutet werden oder junge Männer aus Osteuropa unter prekären Bedingungen auf dem Bau arbeiten müssen.

Doch nach dreizehn Jahren ist Schluss für ihn. Brühwiler sagt: «Irgendwann überlegt man sich als Familienvater, ob man diesen Job mit all seinen Belastungen das ganze Berufsleben lang machen will. Ich kam zum Schluss, dass ich noch etwas anderes erleben will.»

Fündig wird er beim Zürcher Migrationsamt. Etwas mehr als ein Jahr arbeitet er inzwischen dort. Fachspezialist Vollzug nennt sich der Job, den er übernommen hat. Bei ihm landen die Fälle von Menschen, die nicht mehr in der Schweiz bleiben dürfen, weil sie straffällig geworden sind oder kein Bleiberecht mehr haben. Brühwiler führt mit ihnen Gespräche über die Ausreise und organisiert Ausschaffungen.

Menschen, die Zivilcourage zeigten, begegneten Brühwiler in seinem Leben immer wieder. Er erinnert sich, wie einmal ein Mann von einem Hund attackiert wurde und stark aus der Wunde blutete. Eine Helferin reagierte blitzschnell und drückte die Wunde ab. Sie fuhr danach mit dem Opfer bis ins Spital. Brühwiler ist sich deshalb sicher: «Unsere Gesellschaft funktioniert. Auch wenn es ein paar Idioten gibt, ist nicht alles so schlecht, wie es manchmal dargestellt wird.»

Für ihn ist klar: «Ich hätte wohl auch eingegriffen, wenn der Täter das Messer noch in der Hand gehabt hätte.» Letztlich müsse jeder selbst entscheiden, ob er eingreifen wolle. Aber Zivilcourage sei es auch, wenn man die Polizei alarmiere oder ein Video für die Ermittler aufnehme.

Zumindest Hilfe holen kann jeder

Melanie Wegel ist Professorin an der ZHAW und leitet Kurse in Zivilcourage. Grundsätzlich könne jeder Mensch Hilfe leisten, sagt sie. Es sei aber wichtig, so einzuschreiten, dass man sich möglichst nicht selbst gefährde. «Gerade wenn Messer im Spiel sind, kann es sehr schnell passieren, dass man verletzt wird.»

Wichtig sei es deshalb, die Situation zunächst genau zu beobachten. Sind Waffen im Spiel oder ist der Täter körperlich deutlich überlegen, ist Vorsicht geboten. «Was aber nicht geht, ist, nichts zu tun.» Zumindest Hilfe holen könne jeder: Also die Polizei verständigen und weitere Personen involvieren. «Entscheidend ist, dass jemand die Initiative ergreift. Das animiert auch andere Personen, zu helfen.» Sonst droht eine Verantwortungsdiffusion: Alle hoffen darauf, dass jemand anders etwas unternimmt.

Umstehende sollte man direkt und möglichst konkret ansprechen, sagt Wegel. Zum Beispiel so: «Sie in der grünen Jacke, rufen Sie den Notruf an!» Den Täter sollte man siezen, auch um anderen Personen zu signalisieren, dass man selbst nicht Teil des Konflikts ist.

Wenn man eingreift, muss man zudem auf die Verhältnismässigkeit achten. Beobachtet man, wie jemand eine andere Person verbal belästigt, kann man nicht einfach auf den Täter einprügeln.

Wichtig ist auch, vor Ort zu bleiben. Um sich um das Opfer zu kümmern, bis die Rettungskräfte eintreffen. Oder um bei der Polizei als Zeuge Auskunft zu geben. «Es ist deshalb auch hilfreich, wenn man sich alles zur Tat und zum Täter möglichst gut einzuprägen versucht», sagt Wegel.

Kann man Zivilcourage lernen? Viele, die den Kurs bei ihr absolviert hätten, sagt Wegel, hätten selbst schon Situationen erlebt, in denen sie nicht eingeschritten seien. Sie suchten deshalb nach Rat. «Es gibt aber keine fixfertigen Handlungsanleitungen, weil jede Situation individuell ist.» In Rollenspielen könne man sich aber einige Verhaltensweisen antrainieren, die man dann in einer Extremsituation abrufen könne.

Messerangriff schlägt in China hohe Wellen

Der chinesische Student hat die Tat in der ersten Befragung der Ermittler zugegeben. Inzwischen hat das Zwangsmassnahmengericht Untersuchungshaft angeordnet. Angaben zu seinem Motiv haben die Strafverfolgungsbehörden bisher nicht gemacht.

Der Messerangriff schlägt auch in China hohe Wellen, wie die Tamedia-Zeitungen berichten. Der Name des Angreifers wurde in den sozialen Netzwerken veröffentlicht, sein Instagram-Kanal mit negativen Botschaften überflutet. Reagiert hat zudem die chinesische Botschaft. Gegenüber der chinesischen News-Plattform CBN sagte ein Sprecher, dass die Botschaft über den Vorfall orientiert worden und nun dabei sei, die Situation zu analysieren. Man werde den Fortgang der Ermittlungen genau verfolgen.

Mirco Brühwiler sagt, für ihn sei der Job erledigt gewesen, als er den Tatverdächtigen der Polizei habe übergeben können. Die Tragweite des Vorfalls begreift er erst so richtig, als er bemerkt, wie viele Einsatzkräfte der Polizei und der Sanität am Tatort anwesend sind. Über den Täter hat er sich nicht viele Gedanken gemacht.

Zwei Tage nach der Tat wird Mirco Brühwiler vom Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr und vom städtischen Schulvorsteher Filippo Leutenegger empfangen. Die Politiker danken ihm im Namen von Kanton und Stadt für seine Zivilcourage. Das bedeute ihm viel, sagt Brühwiler.

Etwas hat Brühwiler aber noch fast mehr gefreut: die Reaktion seiner Familie. Als er am Abend nach der Tat nach Hause kommt, umarmt ihn seine Frau. «Sie sagte zu mir, sie sei megastolz, und dann hat sie mich zusammengeschissen, weil ich mich in Gefahr gebracht habe.» Brühwiler lacht. Es war nach einem erschöpfenden Tag genau die richtige Reaktion.

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