Samstag, Oktober 5

Die Migros ist mit ihrer Tochter Medbase die grösste Betreiberin von Arztpraxen in der Schweiz. Der Firmenchef Marcel Napierala erklärt, was der orange Riese im medizinischen Geschäft vorhat. Und er zeigt auf, wie die Gesundheitskosten in der Schweiz sinken können.

Die Migros macht derzeit mit einem grossen Konzernumbau von sich reden. Nicht davon betroffen ist allerdings das Gesundheitsgeschäft. Der orange Riese ist in den vergangenen Jahren still und heimlich zum grössten Betreiber von Arztpraxen in der Schweiz aufgestiegen.

Bei den Gruppenpraxen deckt die Migros-Tochter Medbase rund 10 Prozent des Marktes ab. Sie beschäftigt 600 Mediziner, 80 Prozent von ihnen sind Hausärzte. Daneben betreibt Medbase auch Zahnarztpraxen und Apotheken.

Das Unternehmen wird seit über zwanzig Jahren vom Firmengründer Marcel Napierala geleitet. Der ausgebildete Physiotherapeut wäre mit seinem Startup anfangs fast in Konkurs gegangen. Doch nach ersten Erfolgen stieg 2010 die Migros als Aktionärin ein.

Ein Ziel von Medbase ist es, die Gesundheitskosten in der Schweiz zu senken. Die Firma will so mithelfen, ein gesellschaftlich heiss diskutiertes Problem zu entschärfen. Wie soll das gehen?

Herr Napierala, die Migros stösst viele Geschäftsbereiche wie Reisen, Möbel oder Unterhaltungselektronik ab. Warum nicht auch Medbase?

Die Migros setzt künftig auf vier zentrale Bereiche: Detailhandel, Onlinehandel, Finanzen – und Gesundheit, also Medbase. Die Migros-Spitze hat sich klar zur Sparte Gesundheit bekannt. Auch, weil sie gesehen hat, dass wir in einem wachsenden Markt tätig sind. Zu den anderen Bereichen kann ich mich nicht äussern.

Haben Sie konkrete Zielvorgaben?

Nein, das ist in der Medizin auch in herkömmlicher Form gar nicht möglich, anders als im Detailhandel. Wir haben eine schöne Autonomie und können uns weitgehend frei weiterentwickeln.

Wo liegen überhaupt die Synergien zwischen Medbase und der Migros? Schicken Sie einem Migros-Kunden eine Aufforderung für eine Konsultation, wenn seine Cumulus-Daten zeigen, dass er sehr oft Blasentee kauft?

Natürlich nicht. Es gibt bei den Daten eine undurchlässige Wand zwischen uns und der Migros. Die Berührungspunkte mit einem Detailhändler sind relativ klein. Aber ich bin beim Thema Synergien ohnehin eher skeptisch: Wenn man einen Business-Case macht, sieht das mit den Synergien auf dem Papier immer super aus. Aber das dann auch zu realisieren, ist nicht so einfach.

Sie könnten doch die Kunden in den Migros-Einkaufszentren stärker ansprechen: einkaufen und dann gleich noch zum Medizincheck.

Wir machen das in manchen Shoppingzentren schon mit unseren Apotheken oder Zahnarztpraxen. Aber das funktioniert nicht an allen Standorten. Walmart hat es in den USA versucht – und ist grandios gescheitert. Doch selbst wenn wir in allen grösseren Migros-Filialen Gesundheitszentren aufziehen würden, hätten wir gar nicht das Personal, um sie zu betreiben.

Die Migros ist eine sehr starke Marke. Wäre es nicht denkbar, dass sie eine eigene Krankenkasse gründet und die Versicherten verpflichtet, im Krankheitsfall zu Medbase zu gehen?

Wir haben in der Schweiz sicher nicht zu wenige Krankenkassen heute. Die Komplexität in der Medizin ist hoch, im Versicherungsgeschäft ebenso. Ich glaube deshalb nicht, dass wir da mitspielen müssen. Eine Migros-Krankenkasse wird es mit Sicherheit nicht geben. Wir brauchen vielmehr gute Kooperationen mit den bestehenden Versicherern. Deshalb graut mir auch vor einer Einheitskasse. Es ist eine grosse Stärke unseres Systems, dass wir als medizinische Dienstleister mit den verschiedenen Versicherern innovative Modelle entwickeln können.

Ihr wichtigster Pfeiler sind Gruppenpraxen. Ist es legitim, mit Hausarztmedizin Gewinn zu machen?

Gewinnmaximierung war nie unser Ziel. Das Geld, das wir verdienen, können wir in Innovationen investieren. Unsere Margen sind aber sehr tief. Nur indem wir Grössenvorteile nutzen und die betriebliche Effizienz verbessern, können wir überhaupt etwas verdienen.

Laut verschiedenen Medienberichten sind die Gruppenpraxen defizitär – und Sie müssen quersubventionieren durch die Gewinne aus den Zahnarztpraxen.

Wir sind in allen Geschäftsbereichen rentabel, das macht mich stolz. Aber die Margen sind verschieden hoch, das stimmt. Wobei ich auch sagen muss, dass die Margen bei den Zahnärzten nicht unverschämt sind.

Inwiefern kann eine Gruppenpraxis effizienter arbeiten als ein Hausarzt mit Einzelpraxis?

Der wichtigste Punkt ist die Administration, die immer aufwendiger wird. Da können wir vieles bündeln und die Ärzte entlasten. Dann nutzen wir auch die künstliche Intelligenz. Wir testen unter anderem ein neues System, das telefonische Anfragen unserer Patienten transkribiert und eine Triage vornimmt, in welchen Fällen es rasch einen Rückruf braucht. Ein einzelner Arzt kann unmöglich in ein solches System investieren.

Der Hausarzt als Einzelkämpfer ist ein Auslaufmodell. Wird er durch eine anonymere Gruppenpraxis ersetzt, geht einiges verloren, etwa das langjährige Vertrauensverhältnis des Arztes zu seinen Patienten. Einverstanden?

Auch bei uns ist das Ziel, dass eine Patientin immer zur gleichen Ärztin kommt. Aber das ist auch eine Luxusdiskussion. In manchen Regionen ist der Mangel an Hausärzten so gross, dass die Bevölkerung froh sein kann, wenn es überhaupt noch irgendeine Form von medizinischer Versorgung gibt. In einigen Zentren auf dem Land können wir keine neuen Patienten aufnehmen. Ich komme aus dem Berner Oberland, wo es diese Probleme schon länger gibt. Die Entwicklung macht mich traurig.

Was bedeutet die Entwicklung für die Kosten?

Sie ist verheerend. Eine gut ausgebaute Hausarztmedizin verhindert Folgekosten, wenn die Patienten nicht direkt zum Spezialisten oder in die Notfallstation eines Spitals gehen. Doch in den nächsten Jahren verlassen Tausende von Hausärzten den Beruf. Wir müssen dringend Lösungen finden, um sie zu ersetzen.

Wie könnte eine solche Lösung aussehen?

Es braucht einerseits eine weitere Ausbildungsoffensive für Mediziner. Andererseits müssen wir vermehrt auf interprofessionelle Teams setzen. Pflegefachleute und medizinische Praxisassistentinnen könnten den Ärzten schon heute einen Teil der Arbeit abnehmen, so dass diese mehr Zeit für die eigentliche Behandlung haben. Und auch die Apotheken sind Teil der Lösung.

Wie?

Apothekerinnen und Apotheker sind Fachleute mit universitärer Ausbildung und einem grossen Know-how. Wir wollen mehr auf sie setzen und die Apotheken weiterentwickeln – von reinen Verkaufsstellen zu Orten, an denen erste Behandlungen möglich sind. Wir verlagern Patienten mit chronischen Krankheiten von der Arztpraxis in die Apotheke, etwa Diabetiker, die Nachkontrollen brauchen. Auch fürs Impfen werden die Apotheken immer wichtiger. In Zukunft sind dort auch Blutentnahmen für Laboruntersuchungen denkbar. Das sind kleine Schritte, keine Revolution.

Was ist mit der Telemedizin?

Da habe ich im Ausland schon ganz wilde Sachen gesehen: Boxen, in denen Patienten sich den Blutdruck messen und sogar Blut entnehmen lassen können. Oder mit einem Arzt per Videoschaltung sprechen können. So weit sind wir in der Schweiz noch nicht. Wir arbeiten an einem eigenen telemedizinischen Angebot. Damit können Patienten mit akuten Symptomen telemedizinisch betreut werden, die nicht zwingend physisch behandelt werden müssen. Oder auch Personen, die wegen chronischer Krankheiten periodische Kontrollen benötigen.

Bald soll es einen neuen Ärztetarif geben, dank dem die Hausärzte auf Kosten der Spezialisten mehr verdienen. Hilft das gegen den Mangel an Grundversorgern, gerade in der Peripherie?

Ich hoffe es. Wir sind alle ökonomisch denkende Menschen. Und für eine junge Medizinstudentin macht es etwas aus, wenn sie als Hausärztin nur halb so viel verdient wie als Spezialistin. Ich sage nicht, dass ein Hausarzt auch so viel bekommen soll wie ein Spezialist, aber es braucht eine adäquate Entschädigung für diesen wichtigen Beruf.

Wobei Ihre Praxen ja eigentlich der Beleg dafür sind, dass es auch mit den heutigen Tarifen möglich wäre, schwarze Zahlen zu schreiben . . .

. . . wir kommen nur gerade so raus. Ein bisschen mehr Luft würde nicht schaden.

Manche Hausärzte hegen den Verdacht, dass Gruppenpraxen auch deshalb profitabel sind, weil sie bei der Abrechnung optimieren – und immer haarscharf unter der statistischen Limite bleiben, bei der Krankenkassen beginnen, Überbehandlungen zu vermuten.

Überarztung geht nicht, das kontrollieren wir sehr scharf. Wir mussten schon unangenehme Gespräche mit einigen Ärzten führen. Aber das waren absolute Einzelfälle. Wir haben extra sehr tiefe Umsatzbeteiligungen, um keine Anreize für möglichst viele Therapien zu setzen. Und angesichts des Fachkräftemangels können wir es uns gar nicht leisten, unnötige Sachen zu machen.

Bestehen nicht manchmal auch die Patienten auf solchen überflüssigen Behandlungen?

Es kommt vor. Verlangt ein Patient von einem Hausarzt, dass dieser ihn für ein MRI zu einem Spezialisten überweist, könnte der Hausarzt versuchen, ihn zu überzeugen: Nein, das brauchen Sie nicht, aus diesen und jenen Gründen. Doch solche Überzeugungsarbeit kostet Zeit. Zeit, die nicht vergütet wird. Also ist es für den Hausarzt oft bequemer, dem Wunsch des Patienten nachzukommen. Er hat davon im heutigen System ja keine Nachteile – und der Kollege, der das MRI macht, freut sich über Mehreinnahmen.

Wie bekommen wir solche Fehlanreize weg?

Ein Beispiel sind Capitation-Modelle, also fixe Beträge, welche die medizinischen Dienstleister für die Betreuung für eine bestimmte Population bekommen. Wenn sie gute Arbeit leisten und die Leute möglichst lange gesund halten oder sie möglichst schnell wieder gesund machen, verdienen sie daran.

Und wer schlechte Qualität liefert?

Der kann einpacken. Wer keine gute medizinische Arbeit leistet, sollte auch keine Patienten behandeln. Würden wir über die Qualität steuern, müssten wir auch nicht mehr darüber sprechen, ob diese oder jene Leistung in den Grundkatalog gehört oder nicht: Die Ärzte würden nur noch effiziente Therapien anwenden. Und es gäbe keine sinnlosen Mehrfachuntersuchungen mehr.

Es gibt ein solches Experiment bereits im Berner Jura.

Ja, das ist interessant. Aber man kann das nicht nur in einem kleinen Spickel machen. Man müsste alles zusammenschliessen, vom Hausarzt bis zur hochspezialisierten Medizin. Wir sind von einem brauchbaren Modell, das Qualität belohnt, noch meilenweit entfernt. Das mussten wir auch bei uns selbst feststellen.

Inwiefern?

Wir haben bei Medbase mit einigen Versicherern zusammen einen Versuch zur besseren Behandlung von Diabetes gemacht. Eine Studie belegte danach, dass die Patienten länger gesund blieben. Und die Kosten pro Patient sind durchschnittlich um jährlich 2000 Franken gesunken. Doch dafür werden wir als Leistungserbringer im heutigen System bestraft, weil unser Umsatz sinkt.

Sie klingen düster. Ist das Preis-Leistungs-Verhältnis unseres Gesundheitswesens wirklich so schlecht?

Nein, das würde ich nicht sagen, auch wenn immer Optimierungsbedarf besteht – gerade angesichts der hohen Ausgaben, die mittlerweile 12 Prozent des BIP ausmachen. Aber gehen Sie mal nach Deutschland oder Österreich: Dort wollen Sie als Patient nicht grundversichert sein. Eine gute Betreuung bekommen nur jene, die eine Zusatzversicherung haben und zu einem Privatarzt kommen. Oder Grossbritannien. Da warten 65-jährige Menschen, die eine Hüftprothese brauchen, 12 oder 18 Monate. Nicht auf die Operation, sondern auf die Erstkonsultation! Solche Zustände will in der Schweiz niemand.

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