Mittwoch, Januar 15

Deutschlands wichtigstes Filmfestival versuchte alles, um im Gespräch zu bleiben. Aber die Berlinale war wenig zwingend.

Ein Porno-Star arbeitet hart. Rocco Siffredi, 59 Jahre alt, seit bald vierzig Jahren im Geschäft, ist der womöglich produktivste Sexarbeiter des Films. Er bringt es laut einschlägigen Datenbanken auf 1192 Auftritte. Siffredi muss Superkräfte haben. «Supersex» heisst nun eine lose auf seinem Leben basierende Netflix-Serie, die auf der Berlinale uraufgeführt wurde und Anfang März beim Streamingdienst aufgeschaltet wird.

Rocco (Alessandro Borghi) findet nach dem Tod seines körperlich beeinträchtigten Bruders einen neuen Sinn im (Sex-)Leben. Als er aus dem italienischen Ortona zum älteren, ordentlich verdorbenen Stiefbruder nach Paris zieht, lernt er schnell, wie man sich im Rotlichtviertel Pigalle bewegt. Auch eine erste junge Frau verliebt sich in ihn. «Mon dieu!», sagt die Französin, als sie Rocco in voller Pracht sieht. «Sei sanft.»

«Supersex» hat eine gute Länge. In überschaubaren sieben Episoden werden Siffredis steiler Aufstieg zum Porno-Star, aber auch seine Hänger durchgespielt. Filmhandwerklich ist das nicht die hohe Schule. Aber die Berlinale braucht so etwas für die Öffentlichkeitsarbeit. Hardcore-Cineasten rümpfen die Nase. Doch auch ein Filmfestival muss anschlussfähig bleiben für die Generation Streaming.

Adam Sandler und die Riesenspinne

Mit dem Science-Fiction-Film «Spaceman» war Netflix noch ein weiteres Mal vertreten. Adam Sandler (sehr ernst) spielt den «einsamsten Mann der Welt»: Als tschechischer Kosmonaut Jakub Procházka treibt er monatelang allein durchs All, um eine mysteriöse pinkfarbene Wolke im Weltraum zu analysieren. Dann: eine Begegnung der dritten Art.

In seiner rostigen böhmischen Raumkapsel klebt plötzlich eine mannsgrosse spinnenartige Kreatur an der Decke. Mit freundlicher Stimme (Paul Dano) beginnt sie, den «skinny human» vollzutexten: Wieso er so deprimiert sei, will das Wesen wissen. Weil unten auf der Erde Procházkas Frau (Carey Mulligan) beschlossen hat, die Ehe zu beenden, stellt sich heraus. Das ist rührend und damit eher nichts für die beinharten Berlinale-Kritiker. Aber beim Netflix-Familienabend im Wohnzimmer werden ein paar Tränen fliessen, wenn «Spaceman» in den nächsten Tagen ins Streaming kommt.

Nun sind Kino und Sofa nicht das Gleiche. Das Festival versteht sich, vollkommen klar, als Verfechter der ambitionierten siebten Kunst. «Supersex» und «Spaceman» stehen bloss beispielhaft dafür, wie man versucht, im Gespräch zu bleiben. Das ist der Content, der die notorisch anspruchsvollen Inhalte ausbalanciert. Allzu bequem darf’s allerdings nicht werden, das ist den Leuten hier in Berlin wichtig.

Auch in seinem letzten Jahr als künstlerischer Leiter programmierte Carlo Chatrian einen Wettbewerb, den man sich erarbeiten musste. Dass die Berlinale dem Publikum etwas zutraut, ist gut. Aber oft verlieren sich die Filme in ihrer Verkopftheit. Der Goldene Bär ging nun immerhin an die konkret-gegenwärtige Dokumentation «Dahomey», die von der Restitution der Benin-Bronzen handelt.

Die Regisseurin Mati Diop war dabei, als 26 der Reliefs und Skulpturen aus dem Pariser Musée Quai Branly abtransportiert wurden. Und sie war auch dabei, als die Artefakte in Cotonou aus dem Frachtflugzeug entladen wurden. Weiter ging es für die Schätze danach in den Präsidentenpalast, wo sie heute ausgestellt sind. Vordergründig scheint das ein Logistikfilm.

Der Geist der Bronze

Der Kniff ist, dass die Dokumentation zunächst aus der Perspektive von einem der Artefakte erzählt ist. Postkolonialer Diskurs mal anders: Jetzt redet die Bronze. Man habe ihr den Namen «Nummer 26» gegeben, sagt sie mit verzerrter Geisterstimme. Der da spricht, ist der Geist von Gezo, einem Herrscher, der 1818 bis 1858 über Dahomey regierte. Ins finstere Museumsdepot habe man ihn eingeschlossen, klagt der König. Nun jedoch erwartet er mit Sorge die Rückkehr in ein Land, das ihm fremd geworden sein könnte.

Tatsächlich werden die Bronzen in Benin nicht nur mit Begeisterung empfangen. So ist der dritte Akt des Films einer Debatte unter Studenten an der Université d’Abomey-Calavi gewidmet. Nun redet nicht mehr Gezo, sondern es diskutiert die junge Generation: Was ist von Macrons Akt der Wiedergutmachung zu halten? Eine «brutale Beleidigung» sei das, ruft ein Diskutant. Denn was seien schon 26 geraubte Kunstwerke angesichts von 7000, die noch immer zurückbehalten würden? Andere feiern die Rückgabe als Machtdemonstration, der Wind habe gedreht. Während die Verfechter der postkolonialen Theorie in Europa den Diskurs dezidiert in die Enge geführt haben, sucht Mati Diop das Gespräch, das zeichnet ihren Film aus. Und die Berlinale-Jury zeichnete ihn dankend aus, weil er auch dem Festival hilft, im Gespräch zu bleiben.

Antiisraelische Preisverleihung

sca. · Bei der Vergabe der Bären am Samstagabend im Berlinale-Palast nutzten reihenweise Preisträger die Bühne für propalästinensische Solidaritätsbekundungen. Ben Russell, amerikanischer Co-Regisseur des in der Sektion «Encounters» ausgezeichneten Aktivismus-Films «Direct Action», betrat die Bühne in einem sorgsam drapierten Palästinensertuch und klagte den israelischen «Genozid» an. Der jüdische Israelkritiker Yuval Abraham, der zusammen mit dem palästinensischen Aktivisten Basel Adra den Film «No Other Land» über Zusammenstösse im Westjordanland realisiert hatte (Preis für den besten Dokumentarfilm), bemühte den Apartheid-Vorwurf. Auch die Gewinnerin des Goldenen Bären Mati Diop («Dahomey») vergass nicht, von Senegals Freiheitskampf zu dem der Palästinenser überzuleiten. Kein Preisträger kam auf die Hamas zu sprechen, auch die israelischen Geiseln schienen niemandem eine Erwähnung wert.

Exit mobile version