Unter Jugendpsychiatern herrscht Streit über die Behandlung von Kindern, die sich im falschen Körper wähnen. Nun ist eine umstrittene Behandlungsleitlinie zu dem ideologieträchtigen Thema erschienen – ohne Zustimmung der Schweizer Fachgesellschaft.

Es dauerte lange, und es gab jede Menge Streit. Doch jetzt ist sie erschienen: Eine neue deutschsprachige Leitlinie setzt medizinische Standards bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz – also Jugendlichen, die sich im falschen Körper fühlen. Was ist zu tun, wenn eine 14-Jährige sagt, sie sei männlich, oder umgekehrt? Kinderpsychiater, Psychotherapeuten und andere medizinische Berufsgruppen sollen jetzt einen Leitfaden zum wissenschaftlich fundierten Umgang mit diesen Betroffenen erhalten.

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Bereits vor etwa einem Jahr stand das Papier kurz vor der Veröffentlichung, die Ankündigung erfolgte unter grossem Medienrummel. Schweizer, deutsche und österreichische Experten waren an der Formulierung beteiligt, und die Leitlinie sollte für den gesamten deutschsprachigen Raum gelten. Doch harsche Kritik von Fach- und Elternverbänden sowie der deutschen Bundesärztekammer verzögerte die Veröffentlichung.

Zum Beispiel hatte die Schweizer Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (SGKJPP) eine Überarbeitung der Leitlinien gefordert und war damit einer Erklärung der europäischen Kinder- und Jugendfachgesellschaft Escap gefolgt, die eine stärkere Berücksichtigung medizinethischer Grundsätze anmahnte. Fünfzehn deutsche Hochschulprofessoren verfassten eine detaillierte Kritikschrift, der deutsche Ärztetag – das Parlament der Ärzteschaft – forderte eine starke Überarbeitung der Empfehlungen.

Empfehlungen bleiben gleich

Nun ist die Leitlinie still und leise erschienen, ganz ohne grosses Aufsehen. Das Ergebnis: Die Autoren haben den Text überarbeitet – bleiben jedoch im Wesentlichen bei den strittigen Empfehlungen. Damit setzen sie sich für einen Behandlungsweg ein, von dem die Experten in vielen anderen Ländern wie Grossbritannien und in den skandinavischen Ländern mittlerweile abgekommen sind.

Im Grundsatz geht es um den sogenannten «affirmativen» Behandlungsansatz: Gibt ein Jugendlicher bekannt, seine Seele habe ein anderes Geschlecht als sein Körper, so solle diese Wahrnehmung nicht hinterfragt, sondern akzeptiert werden.

Die Selbsteinschätzung der Kinder bildet damit die Grundlage der Diagnose, andere mögliche Ursachen für das empfundene Leid spielen kaum eine Rolle. In der Folge ist dann bei Minderjährigen das sogenannte Dutch Protocol möglich: die Gabe von Pubertätsblockern, um die unerwünschte Entwicklung hin zu Mann oder Frau zu stoppen, dann die Verabreichung von Hormonen des erwünschten Geschlechts.

Als letzter Schritt folgen dann die Entfernung der Brüste, der Gebärmutter oder der Hoden und des Penis, wobei Operationen, die Unfruchtbarkeit bedeuten, erst ab der Volljährigkeit erlaubt sind. Eine ergebnisoffene Psychotherapie, die das Ziel hat, die Wahrnehmung der Jugendlichen zu hinterfragen, ist laut der Behandlungsleitlinie unethisch – obwohl viele der Jugendlichen nachweislich zusätzlich von anderen psychischen Störungen betroffen sind, die theoretisch die Ursache des Leidens darstellen könnten.

Pubertätsblocker haben Folgen

Das Bemerkenswerte ist, dass es kaum wissenschaftliche Forschungsergebnisse gibt, die für diesen Behandlungsweg sprechen. Sehr lange existierten so gut wie keine belastbaren Studien, seit wenigen Jahren erst sind welche vorhanden, wie zum Beispiel der Cass-Review, der im vergangenen Jahr viel Aufsehen erregt hat. Bis heute gibt es keinen Nachweis, dass Pubertätsblocker und Hormone den Jugendlichen eine nachhaltige Besserung ihrer psychischen Gesundheit bringen.

Im Gegenteil: Es mehren sich die Hinweise, dass unter diesem Behandlungsregime schwerwiegende Probleme auftreten können, zum Beispiel Unfruchtbarkeit, eine Abnahme der Knochendichte, erneute psychische Belastungen durch das Ausbleiben der Pubertät und Verzögerungen der Hirnentwicklung.

Ein grosser Kritikpunkt, den zum Beispiel die erwähnten fünfzehn Professoren in ihrer Replik auf die Leitlinie angemahnt hatten, war, dass die neuesten wissenschaftlichen Studien nicht einbezogen worden waren. Das haben die Autoren der Leitlinie nun zwar nachgeholt – sie zitieren die entsprechenden Studien, die Behandlungsempfehlungen bleiben aber die gleichen.

Die europäische kinderpsychiatrische Fachgesellschaft Escap hatte angemahnt, unbedingt den medizinethischen Grundsatz «Do no harm», also das Prinzip des Nichtschädigens, einzuhalten. Damit verwiesen diese Fachexperten auf ein medizinethisches Dilemma: Die Jugendlichen begeben sich zu Beginn der Behandlung mit einem gesunden Körper auf einen Weg, auf dem eine Umkehr schwierig bis unmöglich ist. An dessen Ende leiden sie möglicherweise unter dauerhaften medizinischen Einschränkungen, und es ist niemals wieder möglich, in den ursprünglichen körperlichen Zustand zurückzukehren.

Eine Änderung gibt es, doch die ist unlogisch

Florian Zepf ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Jena und war zwei Jahre lang Teil der Leitliniengruppe. Er hat sie auf eigenen Wunsch verlassen. «Ich konnte die Ausrichtung der Leitlinie nicht mit meinem Berufsethos vereinbaren.» Er sagt: «In den neuen Leitlinien gibt es im Vergleich zur vorherigen Version vor allem eine bemerkenswerte Änderung.»

Neu sei, dass die Leitlinie eine Unterscheidung vorgebe zwischen einer stabilen Geschlechtsinkongruenz und einer vorübergehenden Geschlechtsunzufriedenheit. Erst bei einer stabilen oder dauerhaften Geschlechtsinkongruenz sei die Behandlung mit Pubertätsblockern und Hormonen angezeigt. Zepf sagt: «Das Problem ist aber, dass die Leitlinie keine Kriterien oder Vorgehensweisen angibt, wie diese zwei Ausprägungen vorab genau voneinander unterschieden werden können und es gibt auch in der gesamten wissenschaftlichen Literatur keine etablierte und sichere Vorgehensweise hierzu.» Die Argumentation klinge zwar zunächst sinnvoll, widerspreche aber dem heutigen Forschungsstand.

Dieser besagt: Selbst wenn Jugendliche eine Diagnose der Geschlechtsinkongruenz erhalten, so existiert das Leiden nach nur wenigen Jahren bei einem grossen Teil der Betroffenen nicht mehr. «Wir wissen aus einer vergleichsweise neuen Studie aus Deutschland, dass nach fünf Jahren nur noch bei 36,5 Prozent der diagnostizierten jungen Menschen die Diagnose weiterhin bestand», sagt Zepf. Möglicherweise würde mit dem Dutch Protocol also die Gesundheit von Jugendlichen fürs Leben geschädigt, deren Geschlechtsinkongruenz nur wenige Jahre später von selbst wieder verschwunden wäre.

«Ein grosses Problem an der Leitlinie und ihrer Sicht auf das in dieser Häufigkeit vergleichsweise neue Phänomen einer Geschlechtsinkongruenz bei Minderjährigen sind ausserdem einige logische Zirkelschlüsse und Widersprüche, die derzeit nicht aufgelöst werden können», sagt Zepf. Zum Beispiel gehe die Leitlinie von einer biologisch determinierten, angeborenen Geschlechtsidentität aus, die jeder Mensch besitze, die aber völlig unabhängig vom biologischen Geschlecht sei. Damit spreche sie von einer Trennung zwischen Körper und Seele, also einer Art Körper-Seele-Dualismus.

Die Schweiz hat keine Zustimmung erteilt

«Für eine solche Annahme bezüglich dieser vulnerablen Kinder und Jugendlichen gibt es derzeit keine wissenschaftliche Grundlage», sagt Zepf. Vielmehr handele es sich oftmals um verschiedene Formen von Selbstinterpretationen, und diese könnten über das ganze Leben immer wieder Veränderungen unterliegen – bei allen Menschen. Darüber hinaus ist es unlogisch, von einer biologisch festgelegten, unhinterfragbaren Geschlechtsidentität auszugehen, die immer unabhängig vom biologischen Geschlecht ist, die dann aber wieder bei einem Teil der Menschen nur vorübergehend sein soll, wie jetzt in der neuen Leitlinie vorgeschlagen.

Doch warum bleiben die Autoren der Leitlinie trotz enormer Kritik und aller wissenschaftlichen Evidenz dennoch bei diesem Behandlungsweg? Auf Anfrage der NZZ wollten sich weder der Leitlinienkoordinator Georg Romer noch die Zürcher Leitlinienautorin Dagmar Pauli noch Vertreter der europäischen kinderpsychiatrischen Fachgesellschaft Escap äussern, die die Leitlinie zuvor kritisiert hatte.

Auch die Schweizer Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie möchte vorerst keinen Kommentar abgeben. Wer die Leitlinie aber aufmerksam liest, stellt fest: Die Schweizer Fachgesellschaft hat der Leitlinie ihre Zustimmung nicht erteilt. Auch die deutsche psychiatrische Fachgesellschaft DGPPN hat zwar zugestimmt. Sie hat jedoch zahlreiche Sondervoten, Anmerkungen und Einschränkungen abgegeben, die in der Leitlinie auch aufgeführt sind.

Negative Folgen für die Langzeitgesundheit

Eines dieser Sondervoten betrifft die Erwähnung eines Rechtsgutachtens in Kapitel 5. Der Leitlinienkoordinator Georg Romer gibt ein Rechtsgutachten der Universität Münster als Quelle an. Dieses Gutachten verhandelt die juristische Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger, die ja in eine Behandlung einwilligen müssen, die irreversible Folgen für die spätere psychische Langzeitgesundheit haben kann. Das Gutachten diskutiert damit eines der zentralen medizinethischen Dilemmata der Leitlinie.

Das Rechtsgutachten hat Romer selbst in Auftrag gegeben, es ist unveröffentlicht und für niemanden zugänglich, kann deshalb also nicht als Quelle dienen. Die DGPPN merkt an: «Einige medizinethische Fragen werden zwar aufgeworfen, aber nicht abwägend diskutiert.» Mit der Erwähnung des Rechtsgutachtens werde nur der Eindruck erweckt, die medizinethischen Probleme ausgiebig erwogen zu haben.

Der Kinderpsychiater Zepf sagt: «Es ist bemerkenswert, dass die Leitlinienautoren trotz breiter, fundierter Kritik und angesichts der Forschungslage solche Empfehlungen abgeben. Es ist zu befürchten, dass betroffene Minderjährige negative Folgen aufgrund dieser Leitlinie erfahren können. Die Verfasser der Leitlinie sowie die entsprechenden beteiligten Fachgesellschaften müssten sich in diesem Fall viele sehr kritische Fragen gefallen lassen.»

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