Sonntag, April 20

Tagelang dem Nichtstun frönen, und das mit gutem Gewissen. Das geht nur, wenn Weihnachten vorbei ist und Silvester noch fern scheint.

Zwischen den Jahren wird es plötzlich still. Die Geschenke unter dem Christbaum sind verschwunden, die Verwandten abgezogen, die Wohnung ist leer. Und auf der Arbeit läuft alles langsamer.

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Zwischen Weihnachten und Silvester bildet sich für viele ein zeitliches Vakuum, fernab vom normalen Trubel. Der Stress der Weihnachtszeit fällt ab wie die Nadeln am Tannenbaum, doch für das Umsetzen der Neujahrsvorsätze scheint es zu früh. Es sind Tage, an denen es endlich wieder einmal nichts zu feiern gibt. Tage ohne Erwartungen, Ambitionen. Und doch scheint alles möglich.

Das Buch fertig lesen, das das ganze Jahr auf dem Nachttisch lag. Den Freund besuchen, den man immer knapp verpasst hat. Die Kleider aussortieren, damit der Schrank wieder schliesst. Oder einfach einen Tag verschlafen. Es folgen ja noch weitere.

In der Schweiz nennen wir diese Zeit zwischen den Jahren Altjahrswoche, in Grossbritannien ist es die Boxing Week. In Norwegen feiert man bis am 6. Januar Romjul oder Romhelg, was aus dem Altnordischen stammt und etwa bedeutet: «was nicht streng heilig gehalten werden muss».

In dieser Zeit wird in Norwegen viel gegessen, das «pepperkakehus» wird zertrümmert, das Lebkuchenhaus, ein alter Brauch. Und wie in anderen Ländern ziehen sich die Leute zurück, ins Daheim oder in die Ferienhütte in den Bergen. Der Zauber ist überall derselbe: Es ist die Banalität, die diese Tage so besonders macht.

Die gefährliche Langeweile

Zwischen den Jahren tun wir Dinge, auf die wir an anderen freien Tagen nie kämen. Wir holen die Kiste mit den Malsachen vom Dachboden, die dort seit Jahren verstaubt. Wir schauen uns Fotoalben an, sortieren Bücher aus. Oder dämmern vor dem Fernseher vor uns hin. Das Haus verlassen muss man nicht, aber endlich darf man.

Es ist schwer, den Leistungsdruck unserer Gesellschaft abzuschütteln. Doch in der Altjahrswoche fällt es leicht. Endlich dem Nichtstun frönen. Und das mit gutem Gewissen. Kein Raum für Fomo, «fear of missing out» – weil ein ganz frisches, neues Jahr vor uns liegt, in dem wir dann wieder alles machen und erreichen können. Und weil wir wissen, dass unsere Mitmenschen in diesen Tagen genauso wenig erleben wie wir.

Langeweile ist sonst verpönt. Nur Kinder dürfen sich langweilen. Erwachsene wissen ihre Zeit effizient zu nutzen. Es ist uns unangenehm, nichts zu tun. Das illustriert ein Versuch in den USA aus dem Jahr 2014. 42 Studenten wurden für 15 Minuten allein in einen Raum gesetzt. Sie hatten die Option, sich mit sich selbst zu beschäftigen oder sich einen kurzen, aber unangenehmen Stromschlag am Knöchel zu versetzen. 18 von ihnen, die meisten Männer, nutzten den Elektroschocker mindestens einmal in dieser Viertelstunde. Nichtstun war schmerzhafter für sie, als sich selbst Schmerzen zuzuführen.

Studien haben zudem gezeigt, dass Langeweile im Übermass aggressives Verhalten fördern, Halluzinationen auslösen kann und im Zusammenhang mit Depressionen und anderen körperlichen Leiden steht. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard soll die Langeweile einmal als «Wurzel allen Übels» bezeichnet haben.

Der Nutzen des Nichtstuns

Doch richtig angegangen ist Langeweile sehr förderlich. Wenn wir in den Tagen zwischen den Jahren ruhen und den Status der Konzentration verlassen, schaltet auch unser Hirn in den Ruhezustand, den sogenannten «default mode». Dieser Übergang bringt häufig besonders kreative Ideen und neue persönliche Einsichten hervor, wie die Forschung gezeigt hat – solange man nicht ins Grübeln kippt. Auch in einer altchinesischen Spruchsammlung heisst es: Beim Nichtsmachen bleibt nichts ungemacht.

Der Zeitpunkt des Jahresendes ist für das Nichtstun ideal. Denn zwischen den Jahren nehmen wir uns Zeit zur Reflexion. Viele collagieren sich ein Vision-Board oder schreiben sich eine Liste mit Vorsätzen fürs nächste Jahr. Es lohnt sich jedoch, vor dem Basteln nochmals innezuhalten.

Zwischen den Jahren schauen wir zurück und nach vorn. Laut dem verstorbenen deutschen Wirtschaftspädagogen Karlheinz Geissler, der Jahrzehnte zum Thema Zeit geforscht und mehrere Bücher darüber verfasst hat, ist dafür eine bewusste Pause essenziell. Denn erst dann teilt sich der kontinuierliche Lauf des Lebens in verschiedene Episoden, die Pausen sind die Trenner dazwischen, die Vergangenheit und Zukunft unterscheiden. Geissler bezeichnet solche Pausen als «Humus für Gelegenheiten, die es sonst nicht gäbe, für wichtige Erfahrungen und einmalige Erlebnisse».

Forrest Gump hat das ziellose Nichtstun perfektioniert

Mehrere Trends haben sich dem Nutzen des Nichtstuns verschrieben. In Italien nennt man es «dolce far niente», in Dänemark «hygge», in den Niederlanden «niksen». Im Zentrum steht das Nichtstun ohne Ziel.

Die neuste Adaption der Nichtstun-Bewegung nimmt hingegen fast martialische Züge an: Beim «rawdogging» messen sich vor allem Männer darin, wie lange sie im Zug, im Flugzeug oder im Auto in die Leere starren können. Die einen verbieten sich sogar, etwas zu trinken oder auf die Toilette zu gehen. Sie wählen den kalten Entzug. Und brüsten sich damit auf den sozialen Netzwerken. Und verfallen wieder dem Leistungsdrang.

Ein besseres Beispiel ist da der Filmheld Forrest Gump. Der rannte Jahre lang kreuz und quer durch die USA, ohne wirkliches Ziel, ohne Pause. Nach drei Jahren und zweieinhalb Monaten hörte er auf, wegen Müdigkeit und ohne grosse Offenbarung, die er hätte teilen können – zur Enttäuschung seiner riesigen Anhängerschaft.

Natürliche Pause

Zwischen den Jahren braucht es kein «rawdogging», kein «niksen», um zur Ruhe zu kommen. Die Pause ergibt sich für viele ganz natürlich. Wegen exzessiver Weihnachtsmahle ist für die ganze Woche vorgekocht. Halbvolle Guetzlikisten stillen Gelüste, und die Kinder sind mit ihren neuen Spielsachen beschäftigt.

Wie schön, dass es niemanden interessiert, was in dieser Zeit passiert. Sich selbst eingenommen. Nächstes Jahr erinnern wir uns knapp daran, mit wem wir Weihnachten gefeiert haben, wo wir an Silvester waren. Aber was war dazwischen? Das ist verschwommen. Und diese wunderbare Lücke wird zum schwarzen Loch im Kalender und im Gedächtnis. Gut so.

Exit mobile version