Dienstag, April 1

Die Bayerische Staatsoper zeigt «Die Passagierin» von Mieczysław Weinberg in einer neuen Fassung. Mit Elementen, die an «Titanic» oder «The Shining» gemahnen, wird das Grauen der eigenen Erinnerung erzählt.

Die jüngste Premiere in München präsentiert fraglos ein Werk der Stunde. Seit dem Terrorangriff der Hamas und dem Krieg im Gazastreifen grassieren verstärkt Rassismus und Antisemitismus. Gleichzeitig scheint allenthalben ein rechter Populismus zu erstarken. Der Zweiakter «Die Passagierin» von Mieczysław Weinberg, der jetzt an der Bayerischen Staatsoper Premiere hatte, entwickelt da eine besondere Dringlichkeit. Eine der Figuren ist die frühere deutsche KZ-Aufseherin Lisa, die Jahre nach dem Krieg auf einem Schiff die seinerzeit in Auschwitz inhaftierte Polin Marta wiederzuerkennen glaubt.

Die Vergangenheit holt sie ein, im beengten Raum des Ozeandampfers geht es bald um die grossen Fragen, um Schuld und Sühne und die Macht der Erinnerung. Die Oper fusst grösstenteils auf einer autobiografischen Erzählung der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz aus Polen. Weinberg wiederum flüchtete seinerzeit vor den Nazis in die Sowjetunion, wo er im antijüdischen Spätstalinismus abermals lebensbedrohlichen Anfeindungen ausgesetzt war. Seine Familie war in Polen dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer gefallen.

Schuld und Sühne

Weinberg vollendete «Die Passagierin» 1968, erstmals szenisch gezeigt wurde die Oper aber erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen, fast fünfzehn Jahre nach Weinbergs Tod. Ein Jahrhundertfund, das war schnell klar, der seither eine internationale Renaissance von Weinbergs reichem Schaffen in Gang gebracht hat. Sie gipfelt diesen Sommer in der Erstaufführung von Weinbergs Dostojewski-Oper «Der Idiot» an den Salzburger Festspielen. Umso mehr erstaunt, dass Münchens Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski die Leitung der «Passagierin» an die Bedingung geknüpft hatte, dass für München eine eigene Aufführungsfassung erstellt werde.

In der Oper sei nämlich die Vorlage von Posmysz in mancher Hinsicht entstellt worden, so hiess es. Nach ihrem Tod 2022 sollte die Oper nun eine neue Ebene der Rezeption erfahren. Die Eingriffe in München sind allerdings beträchtlich. Die Musik wurde um bis zu dreissig Minuten gekürzt und die Sprache des russischen Librettos ins Polnische übertragen. Damit sollte Posmysz gewürdigt und zugleich der Kontrast zum Deutschen – hier die Sprache der Täter – hervorgehoben werden.

Die Partie der Katja, einer inhaftierten russischen Partisanin, wurde in München dagegen komplett gestrichen, denn sie findet sich nicht bei Posmysz und ist wohl der damaligen Sowjetzensur geschuldet: Im sozialistischen Realismus waren Parteilichkeit und Volkstümlichkeit zentrale Forderungen an die Kunstschaffenden, und eine Partisanin, die ein patriotisches Lied singt, ist eine typische Figur für die sowjetische Oper jener Zeit.

Es ist verständlich, dass Jurowski als gebürtiger Russe mit ukrainischen Wurzeln Anstoss an dieser sowjetischen Propaganda nimmt, umso mehr angesichts des derzeitigen Krieges in Europa. Dennoch steht die Frage im Raum, ob das Streichen dieser Rolle nicht auch erfolgte, um möglichen Protesten schon im Vorfeld entgegenzuwirken. München und Kiew verbindet eine Städtepartnerschaft. Jurowskis Bestreben, die «Passagierin» so zeithistorisch korrekt wie möglich aufzuführen und dabei die Intentionen von Posmysz stärker zu berücksichtigen, dürfte indes auch mit seiner jüdischen Herkunft zusammenhängen. Viele seiner Vorfahren wurden von den Nazis ermordet.

Wenn Weinberg in seiner «Passagierin» erstmals überhaupt ein Vernichtungslager wie Auschwitz realistisch auf der Bühne zeigen wollte, so verarbeitete er damit auch seine eigene Familiengeschichte. Jede Inszenierung dieses Werks muss sich mit dieser persönlichen Tatsache feinfühlig auseinandersetzen. Für Jurowski wie auch für den Regisseur, den designierten Hamburger Opernintendanten Tobias Kratzer, war von Anfang an klar, dass es keine realistische «Auschwitz-Bebilderung» samt Sträflingskleidung geben sollte – wie es durchaus in mehreren vorangegangenen Produktionen üblich gewesen ist.

Stattdessen sollten sich Assoziationsräume weiten, in denen sich Reales und Erinnertes ineinander verschränken. Im ersten Akt ging das nur bedingt auf. Das Einheitsbühnenbild von Rainer Sellmaier ist eine Seitenansicht auf das Schiff, mit dem Lisa und ihr ahnungsloser Mann Walter, dargestellt von Charles Workman, nach Südamerika schippern. Alle Mitreisenden scheinen sie an Auschwitz zu erinnern, wobei auch die SS-Männer wie Passagiere aussehen.

Der stärkste Einfall ist hier die Doppelung der singenden Lisa (Sophie Koch) durch eine ältere, zunächst stumme und schliesslich sprechende Lisa (Sibylle Maria Dordel). Diese Doppelgängerin wirkt wie die alte Rose aus dem «Titanic»-Film von James Cameron. Am Ende des ersten Aktes wirft die alte Lisa eine Urne mit der Asche Walters in den Ozean und stürzt sich hinterher. Im zweiten Akt wird zurückgeblendet, diesmal in den Speisesaal des Schiffs. Diese Szenerie erinnert an die gespenstische Hotelbar-Szene in «Shining» von Stanley Kubrick.

Unverminderte Wirkung

Hier nun sind die Inhaftierten schwarz gekleidet, auch die Marta von Elena Tsallagova und ihr Geliebter Tadeusz (Jacques Imbrailo). Es ist diese visuell klare Kontrastierung von Gut und Böse, die der Inszenierung im zweiten Akt hilft. Die Musik Weinbergs greift das auf. Während die Inhaftierten positiv dargestellt sind, werden die Täter karikiert. Da stampfen derbe Walzer oder vergnügt sich jazzige Salonmusik, brutal die Gewaltausbrüche. Diese scharfen Kontraste hat Weinberg aus der Oper «Lady Macbeth von Mzensk» von Dmitri Schostakowitsch; ein weiteres Vorbild ist Alban Bergs «Wozzeck», und die Polystilistik verweist auf Alfred Schnittke.

Ein erschütternder Höhepunkt ist fraglos die polystilistische Verfremdung der «Chaconne» für Solovioline von Johann Sebastian Bach – mittendrin in dieser Szene wird Tadeusz totgeprügelt. Mit Sophie Koch und Elena Tsallagova bildet Imbrailo ein überragendes Trio. Das Bayerische Staatsorchester durchdringt diese anspruchsvolle Partitur geradezu mustergültig, nicht minder präsent wirkt der Staatsopernchor. Diese Neuproduktion ist musikalisch aus einem Guss, ein grosser Wurf. Jurowski ist eben ein Meister der Moderne, das ist seine Spezialität. Entscheidend ist aber, dass Weinbergs Oper auch in dieser Münchner Fassung nichts von ihrer aufrüttelnden Kraft eingebüsst hat.

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