Mittwoch, Oktober 2

Wegen des rigiden Ortsbildschutzes droht in der Stadt Zürich eine Baublockade. Das zeigt das Beispiel eines Grossprojekts in Schwamendingen.

Die Baugenossenschaft Glattal Zürich (BGZ) hat grosse Pläne: Allein im Schwamendinger Dreieck – einem rund 100 000 Quadratmeter grossen Gebiet – will die Genossenschaft bis 2042 Liegenschaften mit gegenwärtig 900 Wohnungen erneuern und verdichten. Die Gebäude aus den 1940er und 1950er Jahren sind nicht mehr zeitgemäss.

Vor mehr als zehn Jahren hat die Genossenschaft mit der Planung begonnen, von Anfang an in enger Zusammenarbeit mit der Stadt Zürich. Inzwischen sind drei von elf Etappen umgesetzt. Das Credo lautet, ganz im Einklang mit den Entwicklungszielen der Stadt: verdichten.

Das Grossprojekt steht plötzlich auf der Kippe

Bis vor kurzem war der Genossenschaftspräsident Thomas Lohmann zuversichtlich, spätestens Anfang 2025 das Baugesuch stellen zu können. Doch nun steht das Grossprojekt plötzlich auf der Kippe.

Grund dafür ist das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung, kurz: Isos. Darin sind historische Dorfkerne oder das Zürcher Niederdorf verzeichnet. Aber nicht nur. Im Falle der Stadt Zürich sind satte drei Viertel des bebauten Gebiets seit 2016 im Isos verzeichnet.

Die Schutzgrade reichen von der Vorgabe, ein Gleichgewicht zwischen Alt- und Neubauten zu erhalten, bis hin zum kompletten Abbruchverbot. Das Schwamendinger Dreieck der BGZ liegt dazwischen: In «Ausnahmefällen» darf ein Altbau ersetzt werden.

Bis vor kurzem stellten die Isos-Vorgaben keine grossen Hindernisse dar. Doch in der letzten Zeit hat sich das geändert. Unter anderem, weil in Rekursen gegen Bauvorhaben mit Isos argumentiert wurde und das Bundesgericht Leitentscheide dazu gefällt hat.

Lohmann ist konsterniert. Der Isos-Status des Schwamendinger Dreiecks war bei den vorherigen Erneuerungsschritten kein Hindernis. Denn die Erhaltungskategorie, in der sich das Gebiet befindet, erlaubt eine Interessenabwägung der Stadt im Rahmen des Baubewilligungsverfahrens. Die Rede ist dann von einer indirekten Isos-Anwendung.

Die BGZ sieht sich nun aber mit einer direkten Isos-Anwendung konfrontiert. Das geschieht, wenn das Baufeld auf einer inventarisierten Parzelle liegt und das Bauprojekt eine Bundesaufgabe tangiert.

Im Falle der anstehenden Bauprojekte der BGZ in Schwamendingen sind sogar mehrere Bundesaufgaben im Spiel. Wegen der Grösse des Projekts mit rund 200 Wohnungen und des geplanten Pflegeheims muss die BGZ Luftschutzräume erstellen.

Schutzräume liegen unter dem Boden. Beim Bauen könnte man auf Grundwasser stossen. Auch da ist der Bund zuständig. Die Grundwasserschutzbereiche zeigen: Bei einem grossen Teil der Stadtzürcher Isos-Gebiete kommt deswegen die direkte Isos-Anwendung zum Zug.

Die Bauarbeiter dürften beim Schwamendinger Dreieck nicht nur wegen der Schutzräume mit Grundwasser in Berührung kommen, sagt Lohmann. «Der Boden ist in Schwamendingen extrem feucht, kaum ein Bauprojekt kommt ohne Pfählungen aus.»

Erschwerend kommt hinzu, dass Bundesaufgaben nicht abschliessend definiert sind. Die Liste wächst mit neuen Urteilen des Bundesgerichts.

«Das Ökosystem der Genossenschaft ist in Gefahr»

Wegen der direkten Isos-Anwendung muss nun im konkreten Fall erst das Amt für Raumentwicklung des Kantons Zürich beurteilen, ob das Isos durch das Bauprojekt beeinträchtigt wird.

Ist eine Beeinträchtigung nicht ausgeschlossen, kann die Bauherrschaft versuchen, das Projekt so anzupassen, dass es keine Bundesaufgabe mehr tangiert. Bei der BGZ ist das allerdings keine Option.

Eine weitere Beurteilung ist deshalb nötig, und zwar entweder von der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission oder von der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege. Matchentscheidend sind dann aber nicht mehr kommunale, sondern nationale denkmalpflegerische Interessen.

Für die Baugenossenschaft bedeutet das nicht nur eine weitere Verzögerung, wohl um Jahre, sondern im schlimmsten Fall, dass sie ihre Siedlungen nicht wie geplant verdichten, sondern nur Gebäude in ähnlichen Dimensionen wie jetzt erstellen darf.

«Wenn das passiert, ist das Ökosystem unserer Genossenschaft in Gefahr», sagt der Präsident Lohmann. Die BGZ sei darauf angewiesen, verschiedene Wohnungstypen anzubieten. Nur so könne man Menschen in allen Lebensphasen ein Zuhause bieten.

Jahre der Vorbereitungen, Abklärungen und Projektwettbewerbe wären auf einen Schlag Makulatur, und viel genossenschaftliches Geld wäre verloren. Genaue Zahlen nennt Lohmann nicht, grob könne man aber mit mindestens einer Million Franken rechnen, um ein Projekt bis zur Baureife zu entwickeln.

Auch Wochen nach der Hiobsbotschaft ringt Lohmann noch mit Worten. So unglaublich scheint ihm das Ganze. «Es kann doch nicht sein, dass eine Kommission im Bundesparlament sich damit beschäftigen muss, was auf einer Bauparzelle in Schwamendingen gebaut wird. Da wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen.»

«Das Fuder ist überladen»

Die BGZ ist nicht die einzige Bauherrin, deren Projekt in der Stadt Zürich zurzeit von der direkten Isos-Anwendung ausgebremst wird. An einer Medienkonferenz am Mittwoch sagte der Zürcher Hochbauvorsteher André Odermatt (SP), mit der direkten Anwendung habe der Bund «das Fuder überladen», mit gravierenden Auswirkungen auf die Planungs- und Rechtssicherheit. Filippo Leutenegger (FDP), wie Odermatt Mitglied der Stadtzürcher Bausektion, nannte die Lage eine «planungsrechtliche Katastrophe».

Die Stadt fordert deshalb Anpassungen. Beispielsweise, dass eine direkte Anwendung nur dann ins Spiel kommen soll, wenn ein materieller, sichtbarer Zusammenhang zwischen dem Ortsbild und anderen Bundesaufgaben bestehe. Also beispielsweise nicht bei Grundwasserthematiken oder Luftschutzkellern.

Da dazu Anpassungen auf Verordnungs- und Gesetzesebene nötig seien, seien Übergangsmassnahmen nötig. Der gegenwärtige Zustand sei nicht tragbar und wirke sich negativ auf die Wohnpolitik der Stadt Zürich aus.

Auch würden die raumplanerischen Ziele untergraben: In den grossen Entwicklungsgebieten der Stadt – Altstetten, Zürich-West, Oerlikon und Schwamendingen –, wo gemäss kommunalem und kantonalem Richtplan verdichtet gebaut werden soll, überlagern sich Isos und Gewässerschutz. Im Baubewilligungsverfahren kommt es also zur direkten Isos-Anwendung.

Die Auswirkungen davon seien bereits spürbar, sagt Anne von der Heyde, Direktorin des Amts für Baubewilligungen. «Von den jährlich rund 4000 Baugesuchen in der Stadt Zürich müssen wir fast alle zur Beurteilung an den Kanton schicken.» Weder die Stadt noch das kantonale Amt hätten die Ressourcen für diesen Zusatzaufwand.

Die Fristen für die Bearbeitung der Baugesuche könnten künftig nicht mehr eingehalten werden, sagte von der Heyde. Die exakten Folgen seien noch nicht absehbar. Für komplexe Baubewilligungsverfahren habe die Stadt maximal fünf Monate Zeit. Der Kanton brauche für seine Beurteilung mindestens zwei Monate. «Wenn dann noch ein Gutachten aus Bern dazu kommt, dauert das im Minimum noch ein halbes Jahr, bis ein Entscheid vorliegt.»

Zudem habe der Kanton inzwischen signalisiert, dass er die Anzahl Baugesuche, die er für Isos-Abklärungen annimmt, deckeln werde, sagte von der Heyde. «Wenn das passiert, geht es definitiv in Richtung Blockade.»

«Sturm im Wasserglas»

Doch nicht alle sehen in der direkten Anwendung des Isos ein Problem. Martin Killias, Präsident des Schweizer Heimatschutzes, hat indes wenig Verständnis für den Alarm vonseiten des Hochbaudepartements und der Bausektion. Er nennt es einen «Sturm im Wasserglas». Bei den meisten Projekten gebe es durch die direkten Anwendung von Isos keine grossen Einschränkungen.

Bei der Baugenossenschaft Glattal Zürich sieht man das anders; die Unsicherheit ist gross. Ihr grosses Erneuerungsprojekt habe man gemäss städtebaulichem Masterplan und der aktuellen Bau- und Zonenordnung entwickelt. «Und jetzt befinden wir uns kurz vor dem Ziel im kompletten Blindflug», sagt der Genossenschaftspräsident Lohmann. Er beklagt die «massive Rechtsunsicherheit», mit der sich die Genossenschaft plötzlich konfrontiert sehe.

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