Dienstag, November 11

Seit vier Jahrzehnten verkuppelt Agata Sybilska heiratswillige Polen und Polinnen. Sie weiss, warum Polinnen kaum mehr Westeuropäer suchen, was Frauen über 50 wollen und warum polnische Männer plötzlich Angebote aus dem Ausland erhalten.

An bester Adresse im Warschauer Zentrum, unweit des Kulturpalastes, befindet sich das älteste Heiratsvermittlungsbüro der polnischen Hauptstadt. Ostoya, wie es heisst, wurde von Agata Sybilska gegründet. Derzeit hat sie so viel zu tun wie lange nicht mehr. «Die Tinder-Müdigkeit hat uns aufgeweckt», sagt Sybilska mit einer Mischung aus Seufzen und zufriedenem Lächeln. «Heiratsvermittler gehörten ja angeblich zum alten Eisen. Doch seit Weihnachten rennt man uns die Türen ein wie nie zuvor in den letzten zehn Jahren.»

Die ausgebildete Psychologin kennt ihr Metier wie kaum eine Zweite in Polen. Ihr erstes Ehevermittlungsbüro gründete sie 1982 mit einem Studienkollegen. Damals hätten sie noch Papierkataloge gedruckt und über das Büro Briefe von und an die Interessenten weitergeleitet, erzählt Sybilska. Dating-Apps und das Internet hätten den Markt zwar massiv verändert. Doch immer mehr junge Polen und Polinnen fänden in dieser virtuellen Welt nicht das, was sie suchten. 70 Prozent der polnischen Tinder-Nutzer und -Nutzerinnen seien eigentlich verheiratet, berichtet sie.

Problem Frauenmangel

Bei Sybilskas Agentur hingegen klopften vorwiegend Heiratswillige an. «Sie vertreten eher konservative Werte und wollen gerne eine Familie gründen.» Die grösste Gruppe bildeten seit ein paar Jahren die IT-Spezialisten und überhaupt sehr gut ausgebildete Polen. «Sie kennen sich im Internet bestens aus, sitzen bis spät abends in ihren Büros und treffen keine Frauen mehr.»

Sybilska ist es wichtig, dass die Anfragen ernsthaft sind. Deshalb führt sie mit allen Interessenten als Erstes ein anderthalbstündiges Gespräch. Es findet in einem grosszügigen Zimmer mit klassischen Möbeln und opulenten Vorhängen statt. Man lege Wert auf gut ausgebildete, materiell unabhängige Bewerber, sagt Sybilska. Unter ihnen befänden sich bisweilen auch Parlamentsabgeordnete.

Ihr grosses Problem ist allerdings der Frauenmangel. Vor allem in der Altersgruppe zwischen 20 und 40 finden sich kaum welche in ihrer Kartei. Ab 50 wird es etwas besser. Bei den Männern sind besonders jene zwischen 30 und 40 gut vertreten. Sybilska erkennt darin eine gesellschaftliche Tendenz, dass nämlich immer mehr Polinnen keine Familie mehr gründen wollen.

Die Statistik gibt ihr recht. Polen weist mit 1,3 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter eine der tiefsten Geburtenraten Europas auf. Die Zahl hat sich seit der Wende fast halbiert. Kamen 1990 noch gut 550 000 Kinder zur Welt, so waren es 2022 nur noch gut 300 000 – und dies trotz einem stetig wachsenden Verdienst für Frauen wie Männer. Doch das Land hat sich nicht nur materiell, sondern vor allem auch ideell verändert.

Die demokratische Wende und der Übergang von der sozialistischen Staatswirtschaft zur Marktwirtschaft ab 1989 und Polens EU-Beitritt vor 20 Jahren sind die offensichtlichsten Treiber des Wertewandels. Die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten für Männer wie Frauen haben dazu geführt, dass sich das Heiratsalter immer weiter nach hinten verschiebt. Bildung und Karriere wurden vor allem seit dem EU-Beitritt immer wichtiger.

Der entfesselte Immobilienmarkt schuf Begehrlichkeiten. Viele junge Polen nahmen Hypotheken auf, die sie an die vor allem ausländischen Grosskonzerne und deren Karriereprogramme binden. «Viele Polinnen sagen mir, ein Kind stört doch nur bei der Karriere», erzählt Sybilska. Die Doppelbelastung von Kind und Beruf haben die polnischen Frauen zwar schon im sozialistischen Polen erlebt. Aber im Unterschied zur Vor-Wende-Generation seien die Frauen heute nicht mehr bereit, die Doppelbelastung auszuhalten. Die inzwischen abgewählte PiS-Regierung habe zudem mit ihrer restriktiven Abtreibungsregelung der Ehe- und damit verbunden der Geburtenrate einen Bärendienst erwiesen, fügt Sybilska hinzu.

Warum noch heiraten?

Zu diesem Schluss kommen auch Aktivistinnen und Soziologen, die eine weitverbreitete Protesthaltung junger polnischer Frauen erkennen, die sich zuallerletzt als Gebärmaschinen sehen wollen. Dazu kommt seit der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 ein diffuses Gefühl der Bedrohung direkt vor der eigenen Haustür.

Der Wertewandel zeigt sich nicht nur im Rückgang der Geburtenzahlen. Auch heiraten ist für viele junge Polen immer weniger erstrebenswert. 2022 mussten im Statistischen Jahrbuch Polens bereits 28 Prozent der Neugeborenen in der Rubrik «illegal» aufgelistet werden: das heisst, dass deren Eltern weder kirchlich noch zivilrechtlich getraut waren. Noch rund 156 000 Eheschliessungen wurden in Polen 2022 gezählt, während es 1990 noch gut 255 000 waren. Nur knapp über die Hälfte davon war kirchlich.

Deutlich angestiegen ist dagegen die Scheidungsrate – und zwar von rund 42 000 im Nach-Wende-Jahr 1990 auf rund 60 000 im Jahre 2022. Allerdings gibt es grosse Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den Städten wurde 2022 fast die Hälfte der Ehen wieder geschieden, auf dem Lande nur jede vierte. Der schwindende Einfluss der katholischen Kirche dürfte mit ein Grund dafür sein.

Die Ehevermittlerin Sybilska sieht aber noch andere Gründe für die gestiegene Scheidungsrate: die inzwischen sehr hohen Erwartungen an eine Partnerschaft, verbunden mit mehr materiellem Wohlstand. Fast die Hälfte der heute neu verheirateten Frauen sei akademisch gebildet und Paare daher oft Doppelverdiener, sagt sie. «Beziehungen müssen heute für sehr viele perfekt sein, sonst werden sie eben wieder aufgelöst.» Sie rede aus eigener Erfahrung, sie habe dies alles selbst durchgemacht, erzählt sie ohne Umschweife.

Nachdem ihre Ehe in die Brüche gegangen war – es war sie, die die Scheidung eingereicht hatte –, gründete die alleinerziehende Mutter 1999 ihre eigene Agentur. «Ich tat es, weil ich wusste, dass ich das kann und dass mir die Partnervermittlung im Blut liegt», sagt sie.

Expats sind nicht mehr so gefragt

Sybilska hat auch immer wieder internationale Ehen vermittelt. Vor allem Polinnen, die westliche Ehepartner suchten, wandten sich an sie. In Zusammenarbeit mit Agenturen im Ausland verkuppelte sie sie mit Italienern, manchmal mit Franzosen, Spaniern, Deutschen. Oder mit Polen, die nach Jahrzehnten aus Kanada und den USA zurückkehrten. Doch auch hier haben sich die Vorlieben geändert. «Heute kann ich nur noch manchmal einen Expat vermitteln, die Polinnen wollen keine Ausländer mehr», berichtet sie.

Denn in den 1980er und 1990er Jahren sei die Ehe mit einem Mann aus dem westlichen Ausland für manche Polinnen noch eine gute Möglichkeit gewesen, auf dem dortigen Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Heute eine Polin unter 40 zu finden, die für eine Ehe ins Ausland ziehen würde, sei dagegen sehr schwierig.

Die grosse Zäsur bildet laut Sybilska das Jahr 2004, als Polen der EU beitrat und in der Folge viele internationale Firmen ins Land kamen. «Polinnen bekamen damit die Möglichkeit, schneller Karriere zu machen und gut zu verdienen», erklärt sie.

Allerdings sei auch das Angebot ein Problem. Deutsche, Schweizer oder Österreicher seien praktisch gar nicht mehr vermittelbar, sagt sie. Die meisten von ihnen fänden auf dem heimischen Ehemarkt keine Frau und würden sich dann an sie wenden. Diese Kunden seien oft von der Emanzipation überfordert oder schlichtweg nicht lebenstüchtig.

Auf ausländische Ehen spezialisierte Vermittlungsbüros gibt es allerdings nach wie vor. «Unserer Meinung nach geht es nicht mehr primär um einen höheren Lebensstandard, sondern um den richtigen, liebenswürdigen Partner fürs Leben, den eine polnische Frau sucht», schreibt beispielsweise die Agentur Polish Harmony auf Anfrage. Sie wirbt etwa um deutsche Kunden mit den Worten, polnische Frauen würden an «deutschen Herren» am meisten «Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Genauigkeit, ein angemessenes Verhältnis zu Alkohol (. . .), organisatorisches Talent und Fleiss» schätzen. Auch «finanzielle Stabilität und eine familiäre Lebensplanung» werden hervorgehoben.

Hedonismus schlägt Katholizismus

Laut Sybilska sind viele der geschilderten Eigenschaften auch bei ihren besten ausländischen Kandidaten vorhanden. Dennoch winkt sie ab – die Lage sei schwierig. Sie erzählt von einem «ledigen, kinderfreundlichen, sehr attraktiven» Schweden Mitte 30, den sie seit fast zwei Jahren zu vermitteln versuche. «Sein Problem ist, dass seine Frau zu ihm ziehen soll», sagt sie. Der Mann, selbst polnischer Abstammung, will unbedingt eine Polin heiraten, da diese seiner Ansicht nach traditioneller sind.

Möglicherweise zeichnet sich nun doch noch eine Lösung ab: dank einer Kooperation mit einer Agentur im weissrussischen Grodno, 30 Kilometer hinter der östlichen EU-Aussengrenze. «Die heutigen Weissrussinnen sind wie viele Polinnen vor 30 bis 40 Jahren», erklärt Sybilska. «Sie sind bereit, ihr Land für Freiheit und Wohlstand zu verlassen.»

«In Polen haben wir statt Katholizismus in allen Altersgruppen Hedonismus», sagt sie, die Lage zusammenfassend, mit einem Lächeln. Am ausgeprägtesten sei der Selbstverwirklichungsdrang bei den Frauen ab 50 Jahren. Diese hätten Kinder grossgezogen und wollten noch einmal neu beginnen. Sie suchten sich explizit Männer um die 40 oder jünger. «Sie sind sehr anspruchsvoll, und sehr vielen geht es vor allem um Sex», sagt Sybilska. Dieser Trend sei ein grosses Geschäft, dem sie sich aber nicht widmen will. Es bleibt bis heute ihr Anspruch, Ehen zu vermitteln.

Trotz allen Veränderungen auf dem Heiratsmarkt ist Sybilska zuversichtlich, dass sie fast jeden verkuppeln kann. Ihre Erfahrung hat sie gelehrt, dass jeder Topf seinen Deckel findet, wie man nicht nur in Polen sagt. Schliesslich hat sie in ihrer Karriere bereits mehr als tausend Paare zusammengebracht. Neuerdings tut sich im Ausland ein Fenster für polnische Männer auf, die dort bisher keinen Wert gehabt haben, wie sie sagt. In letzter Zeit hätten immer wieder Frauen aus Südamerika bei ihrer Agentur angeklopft. Sie wollten mittels Heirat mit einem Polen ihren Aufenthalt in der EU legalisieren.

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