Montag, Oktober 14

Sie war erfolgreiche Pianistin und Komponistin, achtfache Mutter, Muse und Seelsorgerin eines labilen Mannes: In dem Ballett «Clara» räumt Cathy Marston am Opernhaus Zürich mit romantischen Verklärungen rund um das Leben von Clara Schumann auf.

Ohne das Klavier geht bei ihr gar nichts: Clara Schumann, erst Wildfang an den Tasten, später eine europaweit geachtete Autorität in allen Fragen des Pianistischen. Dazwischen liegen schicksalhafte Jahre – und Abgründe. Robert Schumann und Clara Wieck müssen vor Gericht ihren Ehebund erstreiten. Geheiratet wird 1840 gegen den Willen ihres Vaters, einen Tag vor Claras einundzwanzigstem Geburtstag, dem Datum ihrer Volljährigkeit. Jetzt widmet sich Zürichs Ballettchefin Cathy Marston in einer neuen Choreografie am Opernhaus Zürich dem Leben und Lieben dieses berühmten Künstlerpaars.

Im Zentrum steht eine hochbegabte Frau, die sich zwischen künstlerischer Berufung, dem kränkelnden Ehemann und der rasch wachsenden Kinderschar aufreibt. Acht Geburten in dreizehn Jahren, dazwischen zahlreiche Konzertreisen durch Europa, auch in die Schweiz. Sie muss eine eiserne Gesundheit gehabt haben.

Ringen um Autonomie

Clara Schumann war die bedeutendste Pianistin ihrer Zeit und eine erfolgreiche Komponistin. Eingebunden in gesellschaftliche Zwänge und in das restriktive Frauenbild ihrer Epoche, liefert ihr bewegtes Leben Stoff für Mythen und Klischees vom Wunderkind und «Idealweib» romantisch verklärter Liebesvorstellungen. Cathy Marston spürt in ihrem neuen Ballettabend «Clara» am Opernhaus Zürich ohne diesen verklärenden Blick den unterschiedlichen Aspekten und Rollen im Leben von Clara Schumann nach, sie zeigt sie als Tochter, Künstlerin, Ehefrau, Mutter, Pflegerin, Managerin und Muse – und erzählt vor allem von ihrem Ringen um Autonomie.

Dieses Ringen beginnt bereits in der Jugend. Ihre Eltern lassen sich scheiden, Clara bleibt beim Vater Friedrich Wieck, der mit ihr seine ehrgeizigen Pläne verwirklicht. Er erkennt ihre Ausnahmebegabung, nutzt sie als Aushängeschild für seine ganzheitliche Klavierpädagogik und schickt Clara als Wunderkind auf Tournee. Ein Teufelsmädchen, das die «Damenemanzipation» am Klavier mit viel Energie, makelloser Technik und spielerischer Leichtigkeit voranbringt.

Aber dann ist da noch Robert Schumann, ein musikalisches Genie und Seelenverwandter, der labile Gefährte der Powerfrau Clara. Für Robert hat sie sich aus der symbiotischen Umklammerung des Vaters gelöst. Mit Robert gerät sie (erneut) in eine belastende Beziehung aus Konkurrenz, Fürsorge und Überforderung. Mit dem Mut einer Löwenmutter stellt sie sich bei Streitigkeiten im Kulturbetrieb vor ihren Mann, verteidigt seine Introvertiertheit und sein mangelhaftes Dirigieren. Die als Pianistin gefeierte Clara ist zu Lebzeiten nicht nur prominenter als ihr Mann, sie verdient auch wesentlich mehr als er.

Ihre grösste Sorge ist seine Gesundheit. Sie erkennt bald, dass sie ihn vor seinen seelischen Abgründen und Nervenzuständen nicht retten kann. Während Robert das Schwinden seiner Kräfte im Vergleich zur scheinbar unverwüstlichen Robustheit seiner Frau überdeutlich spürt, kommt es in der Ehe zu Spannungen. Da hilft nur ein Engel in Gestalt des 20-jährigen Hamburgers Johannes Brahms, der im September 1853 wie ein Lichtstrahl in die sich rapide verdüsternde Künstlerehe fällt. Seine innovativen Kompositionen, die Kraft und der Zauber seiner Persönlichkeit lenken die Künstlergemeinschaft noch einmal in neue Bahnen.

Und plötzlich ist alles wieder da – das Schwärmen und das Aufblühen der kleinen musikalischen Gesten. Da breitet die Musik noch einmal ihre starken Schwingen aus, kreuzen sich die Arme zärtlich beim vierhändigen Klavierspiel. Doch auch dies ist nur von kurzer Dauer. Robert Schumann leidet unter Halluzinationen, unternimmt einen Suizidversuch und lässt sich in die psychiatrische Klinik in Endenich einweisen. Die Ärzte sprechen ein Besuchsverbot für Clara aus, die hochfliegende Künstlerehe steuert in die Katastrophe.

Sieben Aspekte der Persönlichkeit

Marstons Ballettabend gliedert diesen Stoff in drei Akte. Der erste Teil erzählt mit feiner musikalischer Gestik von Claras Übermut und aufkeimender Liebe. Im konfliktreichen zweiten Teil gewinnt der Tänzer Karen Azatyan als neuer Erster Solist des Balletts Zürich in der Rolle Robert Schumanns zunehmend an Profil. Etwas kapriziös bleibt die Idee der Choreografin, die Partie der Clara gleich auf sieben Tänzerinnen zu verteilen. Als auf Spitzenschuhen trippelnde Doppelgängerinnen sind die sieben Claras zwar hübsch anzusehen, aber die Aufsplitterung in unterschiedliche Aspekte ihrer Persönlichkeit erschwert die Identifikation mit der Titelfigur: Kaum hat man sich auf eine Clara-Figur konzentriert, tritt bereits die nächste auf.

Giorgia Giani tanzt das Wunderkind Clara voller Anmut und Wildheit. Ruka Nakagawa gibt die hingebungsvolle Künstlerin, Nancy Osbaldeston die liebevolle Ehefrau. Am eindrücklichsten aber tanzt Max Richter die Muse Clara. In ihrer Feingliedrigkeit und dem entrückten Gesichtsausdruck kommen die Kraft und das Geheimnis dieser aussergewöhnlichen Frau hinreissend zum Ausdruck. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf Johannes Brahms (Chandler Dalton), der sich gewinnend zum sensiblen Ersatz-Mann mausert.

Weniger glücklich ist die musikalische Seite des Abends. Ausschnitte aus Werken von Clara und Robert Schumann sowie von Johannes Brahms werden von der Pianistin Ragna Schirmer und der Philharmonia Zürich unter der Leitung von Daniel Capps in einer neoromantischen Collage des Komponisten Philip Feeney dargeboten. Das gleicht einem Soundtrack im Reader’s-Digest-Format und lässt die musikalische Poesie der Musik schmerzlich vermissen. Am Schluss rückt Ragna Schirmer als Solistin im zweiten Satz aus Brahms’ 1. Klavierkonzert zwar musikalisch vieles wieder zurecht, aber insgesamt wirkt dieser Klangteppich als Grundlage für grossbogige tänzerische Entwicklungen zu wenig tragfähig. Der musikalische Überdruck verführt im dritten Teil zu dramatischem Aplomb: Liebe, Drama, Wahnsinn – all die giftigen Ingredienzien dieser Künstler-Vita tun hier des Guten etwas zu viel.

Auf der Bühne liegt der Deckel eines Flügels. Er ist die Liebesinsel für Clara und Robert, aber auch Roberts einsame Zelle in der Nervenheilanstalt. Am Ende liegt der Deckel in Form eines Engelsflügels da wie ein Grabstein. Robert stirbt, Brahms geht eigene Wege – und Clara spielt weiter Klavier. Sie knüpft da an, wo sie während ihrer Ehe eigentlich nie aufgehört hat, organisiert Konzertreisen, revolutioniert mit ihren Programmideen das Konzertleben. Nicht Opfer sein, sondern Türen aufstossen in eine neue Selbstbestimmung. Ein Rezept für ein couragiertes Leben, das vierzig Jahre über Robert Schumanns Tod hinaus währte. Die Botschaft kommt offenkundig an: Trotz der allzu üppigen Klangkulisse wird dieser vielschichtige und bewegende Ballettabend vom Premierenpublikum zu Recht vehement gefeiert.

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