Montag, September 30

Er verteidigt die rumänische Haushälterin im Prozess gegen den ehemaligen Credit-Suisse-Chef.

Ein Mann betritt den Gerichtssaal in Meilen: Kräftig ist er, im Nadelstreifenanzug, mit getönter Brille, Vollbart und siegesgewisser Ausstrahlung.

Alles an ihm schreit «Staranwalt»: die teure Uhr, der Ring mit dem grünen Edelstein, die Kleidung, die rahmengenähten englischen Schuhe. Nur: Dieser Mann ist ein amtlicher Verteidiger. Die Journalisten in der hintersten Reihe recken die Hälse. Wer ist das?

Der Mann heisst Stephan Reinhardt. Der 57-Jährige verteidigte Anfang August die ehemalige Haushälterin von Tidjane Thiam, dem früheren Chef der Credit Suisse. Thiam wirft der Rumänin vor, ihn genötigt zu haben.

Hintergrund ist eine Mail, in der die Frau von Thiam 587 000 Franken forderte. Mit dieser Zahlung könnten ihre Differenzen beglichen werden, schrieb sie. Andernfalls werde sie die Gewerkschaften und das Internationale Olympische Komitee informieren, dem Thiam angehört.

Im Gerichtssaal in Meilen muss Reinhardt zeigen, was er kann. Das Plädoyer steht an.

Zuerst enthüllt er eine Neuigkeit: Thiam habe bereits einen Prozess gegen seine ehemalige Haushälterin verloren, in dem es um die Arbeitsbedingungen in der Villa des Bankers gegangen sei. Das Zivilgericht Meilen habe Thiam zur Zahlung von mehreren hunderttausend Franken verdonnert.

Die Journalisten schauen verdutzt.

Dann tadelt Reinhardt die Medien: «Offensichtlich wurde die Presse falsch und unvollständig zum Nachteil meiner Mandantin informiert.» Thiam manipuliere die Medien zu seinen Gunsten.

Und all dies tut Reinhardt streckenweise in kultiviertem Oxford-Englisch.

Es folgt das Urteil. Die Richterin, eher der nüchterne Typ, kann sich zwar einen Seitenhieb an Reinhardt nicht verkneifen («ich halte mich kürzer als Sie in Ihrem Plädoyer»), folgt dem Verteidiger sonst aber auf ganzer Linie: Seine Mandantin wird freigesprochen.

Die Frau schlägt vor Erleichterung die Hände vors Gesicht. Als Reinhardt sie aus dem Gerichtssaal begleitet, eilen die Journalisten herbei. Einer fragt ihn: «Warum haben Sie gestern am Telefon nicht erwähnt, dass die Frau schon ein Zivilverfahren gegen Thiam gewonnen hat?» Seine Antwort: «Sie haben nicht danach gefragt!»

Draussen lotst er seine Mandantin zu einem schwarzen Range Rover, der vor dem Gericht wartet. Mit seinem Auftreten könnte man ihn auch für einen Personenschützer halten.

Gemessen am öffentlichen Interesse, ist der Thiam-Fall Reinhardts bis jetzt grösste Bühne. Das heisst etwas. Reinhardt hat eine schillernde Vergangenheit. Doch seine Bekanntheit hat er unfreiwillig erlangt.

Kindheit in Borneo und Gabon, Karriere in der Schweiz

Bereits 13 Jahre ist es her, dass er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere befunden hat. Mit Mitte 40 wird er zum Aargauer Polizeikommandanten ernannt. Er führt rund 800 Leute, berichtet an den Regierungsrat.

Reinhardt ist an einem Montagmorgen mit dem Auto von Zürich auf der Heimreise. Beim Autobahnzubringer hinter der Sihlcity – er glaubt, er sei ausserorts unterwegs – passiert es.

Ein Radar blitzt ihn. Reinhardt ist mit Tempo 80 unterwegs, Tempo 60 wäre erlaubt gewesen. Er ahnt, dass der Führerschein in Gefahr sein könnte.

Er meldet den Vorfall umgehend dem Aargauer Regierungsrat. Später informiert er selber das Corps. Zuerst denkt er, das zu hohe Tempo sei verzeihlich. Doch die Geschwindigkeitsüberschreitung wiegt im Aargau schwerer als woanders. Die Aargauer Polizei setzt im Strassenverkehr seit Jahrzehnten einen Schwerpunkt.

Schliesslich entscheidet er sich für den Rücktritt. «Rasender Polizeichef nimmt den Hut», titelt «20 Minuten». Reinhardt sagt: «Es war ein Entscheid aus freien Stücken.» Wäre er geblieben, hätte ihm immer ein gewisser Makel angehaftet, ist er überzeugt.

Es ist die Zäsur in einer Karriere, die zuvor nur eine Richtung kannte: nach oben.

Reinhardt wächst in verschiedenen, auch exotischen Ländern auf: in Borneo, im zentralafrikanischen Land Gabon, in den Niederlanden und in Spanien. Der Vater arbeitet als Erdölgeologe für Shell, untersucht neue Erdöl- und Erdgas-Felder. Reinhardt und sein jüngerer Bruder besuchen die britische Schule.

Alle paar Jahre zieht die Familie weiter. Er war immer «the new kid in town», wie er sagt. Früh lernt er, sich rasch auf neue Situationen einzustellen. Eine Stärke, die ihm später viel nützen wird.

In die Schweiz reist die Familie einmal im Jahr, an Weihnachten zum Skifahren. Mit 16 entscheidet sich Reinhardt für die ferne Heimat. Er will hier, weit weg von der Familie, seine Matur machen. Dafür besucht er ein Internat in Zug.

Er absolviert die Rekrutenschule, wird Unteroffizier und Offizier. Das Militär ist ein Bereich, der ihn nicht mehr loslassen wird. Er studiert Jura, wird Anwalt in Basel, entscheidet sich aber für eine Karriere im Sicherheitswesen.

Es folgt Posten auf Posten. Es ist die Zeit von Bundesrat Adolf Ogi, die Schweizer Armee beginnt sich mit internationalen Koordinationen zu befassen. Akademiker mit militärischer Ausbildung wie Reinhardt sind gefragt.

Er wird wissenschaftlicher Mitarbeiter im Verteidigungsdepartement, reist zur Uno nach New York und Genf. Danach schickt man ihn zur schweizerischen Vertretung der Nato nach Brüssel. Parallel dazu besucht er die Lehrgänge für den Generalstab.

Weiter geht es die Leiter hoch: Retour in Bern, wird er Stabschef bei der Bundeskriminalpolizei. Die Behörde wächst rasant, von 100 auf 500 Mitarbeiter. Die Schweiz verstärkt sich im Kampf gegen die organisierte Kriminalität.

Vieles ist im Umbau, Kreativität ist gefragt. Nach ein paar Jahren habe der Chef zu ihm gesagt: «Reinhardt, du warst doch in Brüssel. Mach du Schengen!» Also übernimmt er das grosse Dossier. Oft ist er genau da, wo die Weichen gestellt werden.

Das Karate bringt ihn auf die Spur

Dem ist auch so, als der Posten des Kommandanten der Kantonspolizei Aargau ausgeschrieben wird. Reinhardt beschliesst, sich zu bewerben. «Ohne mir grosse Chancen auszurechnen», sagt er. Aber er bekommt den Job.

Reinhardt wird Nachfolger eines prägenden Kommandanten, der fast dreissig Jahre im Amt war. Typus strenger und gerechter Vater. Das Corps funktioniert, es braucht keine grossen Umstellungen. Reinhardt führt vor allem anders, er ist nahbarer, gibt den Leuten mehr Spielraum.

Nach über vier Jahren geschieht die Sache mit dem Blitzer. Als er geht, zollt ihm die Aargauer Regierung Respekt für seine klare Haltung. Heute sagt er: «Ich bin kein Nostalgiker.» Der Mann scheint nicht mit seiner Entscheidung zu hadern.

Schon länger reizt ihn die Selbständigkeit. Reinhardt sagt sich: «Noch bin ich im Saft, etwas Neues anzufangen.» Also zieht er nach Zürich und wird Strafverteidiger mit eigener Kanzlei.

Ein halbes Jahr lang geht er fleissig mit ehemaligen Dienst- und Amtskollegen zum Lunch, nur bringt das keine neuen Kunden ein. Am Ende ist es die andere grosse Leidenschaft, die ihn auf die Spur bringt: Karate.

Ein befreundeter Karateka betreut die portugiesische Gemeinschaft bei allerlei Behördengängen. Immer wieder braucht da auch jemand Rechtsbeistand. Reinhardt kann helfen, er spricht zwar kein Portugiesisch, aber Spanisch. Die ersten Aufträge trudeln ein.

Seit seiner Matura trainiert er Karate. Mittlerweile trägt er den dritten Dan von fünf möglichen. Er trainiert zwei- bis dreimal in der Woche. Der Mann wirkt, als könnte er notfalls die Dinge auch anders angehen. Sein Händedruck ist kräftig. Wer sich trotzdem an ihn heranwagt, wird überrascht. Er ist charmant, hat Humor und Manieren.

Haben die harten Jungs mehr Respekt, wenn man Karate beherrscht und früher einmal Polizeichef war? Reinhardt winkt ab. Vielleicht sei mal jemand von seinem Hintergrund fasziniert, sagt er. Mehr aber nicht.

Abwehr und Angriff im Fall Thiam

Der Freispruch der Haushälterin im Fall Thiam wirft hohe Wellen, die internationale Presse berichtet. Auch Wochen später reissen die Schlagzeilen nicht ab.

Jüngst berichteten die Tamedia-Zeitungen, der Prozess treibe die Haushälterin fast in den Ruin. Gemeint war der Zivilprozess um die Arbeitsbedingungen, nicht der Strafprozess, in dem Reinhardt sie amtlich verteidigt und damit vom Staat bezahlt wird.

Informationen wie diese werden gezielt gestreut. Es ist ein Spiel, das die Anwälte beherrschen wie sonst fast nur die Politiker. Der Tenor jedenfalls ist gesetzt: Hier die arme Angestellte, dort der skrupellose Machtmensch Thiam.

Reinhardt sagt dazu: «Es ist so ein Fall, bei dem ich zu hundert Prozent überzeugt bin, dass ich das leidtragende Opfer vertrete.»

Tidjane Thiam ist entsprechend wenig erfreut über die Publicity, will er doch im kommenden Jahr neuer Präsident von Cote d’Ivoire werden. Er wittere eine politische Komponente, schreibt er auf seinem Instagram-Profil.

Der ehemalige CS-Chef akzeptiert den Freispruch nicht und legt Berufung ein. Und er weigert sich laut Reinhardt bis heute, den Betrag zu bezahlen, welchen die Frau im Zivilprozess vor Arbeitsgericht erstritten hat.

Also wird der Prozess in eine neue Runde gehen, diesmal vor Obergericht. Reinhardt ist gespannt, um welche Punkte gekämpft werden wird. Ein Karateka in Warteposition. Getreu dem Motto: «Es gibt keinen ersten Angriff im Karate.» Der Kampf beginnt immer mit einer Abwehr.

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