Der 1943 in Auschwitz ermordete russische Schriftsteller Juri Felsen galt als Wunderkind der literarischen Moderne. Nun erscheint mit «Getäuscht» erstmals ein Roman in deutscher Übersetzung.
Ödön von Horváth hat ihn in seinen «Geschichten aus dem Wiener Wald» aufgeschrieben, den grimmigen Satz eines in seinen Gefühlen gekränkten Mannes: «Du wirst meiner Liebe nicht entgehen.» Ebenfalls an der Schwelle zu den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts macht sich ein junger Russe in Paris zum gleichen Thema Gedanken. Der 1894 geborene Juri Felsen verfasst den Roman «Getäuscht», eine Geschichte aus männlicher Selbstliebe und verstecktem Frauenhass.
Wer täuscht hier wen? Das ist die Frage, die einen hineinzieht in ein ausweglos trauriges Buch, das trotzdem Grund zur Freude gibt. Mit ihm kann man einen Autor entdecken, der vergessen ist und bisher kaum ins Deutsche übersetzt wurde. Seine Karriere als «russischer Proust» war kurz. Im Februar 1943 wurde der Jude Juri Felsen in Auschwitz ermordet.
Einen Namen hat der Schriftsteller seinem Roman-Alter-Ego nicht gegeben, ihm dafür aber eine selbstquälerische Aufgabe zugeteilt. Der Erzähler führt Tagebuch über seine Gefühle. Davon hat er genug, während es ihm im Paris der 1920er Jahre deutlich an Geld mangelt. In den Cafés und Bars herrscht wildes Treiben, aber es findet hinter einer pekuniären Grenze statt.
Scheu vor der Arbeit
Das für Ausschweifungen aufgeschlossene Leben schafft Ausgeschlossene, und so landet man in «Getäuscht» gleich zu Beginn in einer ökonomischen Rechnung, die bis zum Ende nicht aufgeht. Da hat einer zu viel und zu wenig zugleich. Worte wie «Liebestrunkenheit» und «Ekstase» beschreiben Gefühlskontostände, während im Portemonnaie Flaute herrscht. Zur produktiven «Gewalt gegen mich selbst» ist der Mann genauso wenig fähig, wie es ihm an «notwendiger Willensanspannung» fehlt. Er habe «eine neurasthenische Scheu vor der Arbeit», lautet die Selbstdiagnose.
Schon an dieser fast unfreiwillig komischen Wendung sieht man, wie fein gesponnen Juri Felsens Roman ist. Die Nerven sind schuld an allem. Sie halten den tagebuchschreibenden Schriftsteller von aller Lebenstüchtigkeit fern und treiben ihn in die Abenteuer der Liebe. Getäuscht sieht sich der Künstler von der Welt rundum, aber in Wahrheit sitzt er selbst an den Schalthebeln einer grossen Verschleierung.
«Getäuscht» ist ein performativer Roman. Man muss die Tagebuchnotizen gegen den Strich lesen, um herauszufinden, was hier wirklich geschieht. Inmitten seiner dezemberschweren Pariser Trübsal wird der Dichter von einer Nachricht aufgeschreckt. Die Nichte einer Berliner Bekannten, ebenfalls Russin, soll Kummer in ihrer Ehe haben und will in der französischen Hauptstadt Ablenkung suchen.
«In den Jahren der Zurückgezogenheit hat sich in mir reichlich unverbrauchte, stumme Zärtlichkeit angesammelt», schreibt Juri Felsens bislang verhinderter Schwerenöter. Sein Kapital will er jetzt an Jelena alias Ljolja verschwenden. Schon vor ihrer Ankunft in Paris steht für ihn fest, dass er der Mann ihres Lebens sein wird.
Nachdem er seine Geliebte in spe vom Bahnhof abgeholt hat, beginnt im Roman ein Spiel aus Nähe und Distanz. Die sinnliche, aber in Gefühlsdingen robuste Frau ergibt sich dem Schwärmer keineswegs. Im Tagebuch allerdings wird sie zur Seelenverwandten stilisiert. Das gibt dem Schriftsteller die Möglichkeit, in ihr ein Spiegelbild seiner selbst zu sehen. Ein im Grunde narzisstischer Komplex, der Irrtum ausschliesst. Ljolja als Seelenverwandte könne gar nicht anders, als ihn so zu lieben, wie er sie liebt.
Verhinderte Liebe
Mit dieser Haupttäuschung betreten wir ein semiotisches Labyrinth. Ein Reich der falsch gedeuteten Zeichen und des Selbstbetrugs. Juri Felsen erzählt etwas Singuläres, aber er stellt damit auch eine universelle Frage: Befinden wir uns, wenn es um die Liebe geht, jemals auf dem Boden von Tatsachen?
Gerade wegen der doppelbödigen Sprache, die Juri Felsen seinem Helden in die Feder legt, ist «Getäuscht» ein Abenteuer. Parfümierte Selbstverliebtheit wechselt mit schroffer Nüchternheit ab. Rosemarie Tietze, die Grande Dame unter den Russisch-Übersetzerinnen, hat dieses Psychogramm sentimentaler Männlichkeit spielerisch auf den Punkt gebracht.
Nicht ganz ein Jahr lang sieht man dem Schriftsteller dabei zu, wie er das Verhältnis zu seiner Angebeteten auszudeuten versucht. Ljolja, so scheint es, verfährt mit ihren eigenen Bedürfnissen einigermassen ungeniert. Zwischendurch versöhnt sie sich immer wieder einmal mit ihrem Ehemann und begibt sich mit ihm auf Reisen. Um sein Ego halbwegs zu stabilisieren, beginnt Felsens Erzähler Affären mit einer wuchtigen, allein an Triebabfuhr interessierten Geschäftsfrau namens Ida und mit einem zarten Mädchen, das Sinka heisst.
Mit Sinkas Bruder Bobka wiederum beginnt Ljolja eine Affäre. Angesichts dieser Tatsache versucht der Schriftsteller Contenance zu bewahren, aber was er sich selbst als Grossherzigkeit verkauft, ist im Grunde nichts anderes als feiger Kleinmut.
Juri Felsen hat sich für seinen Roman kein Happy End ausgedacht. Hier kann es keines geben. Mit der Liebe derer, die nicht zurückgeliebt werden, ist es ein Jammer. Dass mit dem endlich übersetzten Roman «Getäuscht» ein ganz grandioser Jammerlappen das Licht der Öffentlichkeit betritt, ist allerdings mehr als nur ein versöhnlicher Schluss.
Juri Felsen: Getäuscht. Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Rosemarie Tietze. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 272 S., Fr. 37.90.