Für Melchior Dönni aus Luzern ist klar: Die Erde ist flach. 1902 meldet er sein «Weltall-Erd-Relief» beim Amt für Geistiges Eigentum in Bern an. Wäre unsere Sehkraft besser, so glaubt er, könnten wir vom Pilatus bis nach New York schauen.
Im Arm ein gut verschnürtes Paket haltend, macht Melchior Dönni sich im September 1902 auf den Weg zur Post. Dem sechzigjährigen Familienvater aus Luzern ist feierlich zumute. Bald wird er reich und berühmt sein und die ganze Welt seinen Namen kennen, dessen ist er sich sicher.
Im Paket steckt sein Erdrelief – das Modell der Erde nicht als Globus, sondern als Scheibe. Dönni schickt es dem Amt für Geistiges Eigentum in Bern. Dieses prüft die Erfindung und patentiert sie am 24. September, zehn Uhr morgens, Nr. 25409. Sie erfüllt die Vorgaben: Sie ist neu, originell und gewerblich anwendbar. Das Relief, glaubt Dönni, wird den Globus ablösen, der in den Lehrbüchern abgebildet ist. Er ist davon überzeugt, dass die Erde keine Kugel ist, die sich um die Sonne dreht, sondern im Gegenteil eine stabile, flache Scheibe, die von der Sonne umrundet wird. Das sieht ja jeder, und würde die Erde durchs All rasen, müsste man das spüren.
Sein «Weltall-Erd-Relief Nr. 2» hat Dönni sorgfältig aus Gips verfertigt und liebevoll bemalt. Der weisse Nordpol, den er mit einem neckischen Schweizer Fähnchen schmückt, bildet die Mitte der Welt, darum gruppieren sich braun gefärbt Europa, Asien und Nordamerika. Der Südpol markiert den äussersten Rand der Erde. Sein ringförmiges Eisgebirge verhindert, dass die blau bemalten Ozeane abfliessen. Zwischen Nord- und Südpol liegt die heisse Zone mit Asien, Afrika und Südamerika.
Melchior Dönni ist einer der ersten «Flacherdler» der Schweiz. So heissen die Menschen, die im Einklang mit dem Alltagsverstand und gegen die Naturwissenschaften glauben, die Erde sei eine Scheibe. Spätestens seit den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles gilt in der westlichen wie in der islamischen Tradition, dass die Erde die Gestalt einer Kugel habe. Verfeinert wurde die Theorie vom griechischen Mathematiker Ptolemäus. Strittig war allein, ob die Sonne die Erde umrunde oder die Erde die Sonne und ob die südlichsten Breitengrade bewohnt oder überhaupt bewohnbar seien.
Für die Gelehrten des Mittelalters war die Ansicht, die Erde sei flach, schlicht Unsinn. Nur der Kirchenvater Lactantius und der Schriftsteller Kosmas Indikopleustes behaupteten das Gegenteil. Doch die Flacherdler liessen sich nie unterkriegen. 1865 veröffentlichte der britische Erfinder Samuel Rowbotham ein Buch, in dem er ausgehend von der Bibel darlegte, dass die Erde eine Scheibe sei mit dem Nordpol im Mittelpunkt. Ähnliches behauptete 1914 der amerikanische Sektenführer Wilbur Glenn Voliva.
Viele Flacherdler in den USA
Massenhaft Zulauf erhielten die Flacherdler dann ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, als in England die Flat Earth Society gegründet wurde. Je erdrückender die Gegenbeweise waren, desto heftiger beharrten sie auf ihrem Glauben. Die Fotos, welche die Astronauten der Nasa 1968 aus dem All vom Planeten schossen, taten und tun die Flat-Earther als Fälschung und Fake ab. Laut einer Umfrage von 2018 zweifelt jeder sechste Amerikaner daran, dass die Erde eine Kugel sei.
Die Flat-Earther haben sich auch in der Schweiz organisiert, hauptsächlich auf Social Media und anonym. Nur die wenigsten treten in die Öffentlichkeit. Es sind vorwiegend Verschwörungstheoretiker, die sich seit der Corona-Pandemie radikalisiert haben, sie sind davon überzeugt, gegen ein Komplott von Politikern, Wissenschaftern und Pädagogen anzukämpfen, die wider jedes intuitive Wissen die Kugelform der Erde dekretieren. Für die meisten Flacherdler sind die Mächtigen dieser Welt böse und hinterhältig: Sie würden Lügen in die Köpfe der Menschen pflanzen und diese manipulieren. Gegen sie helfe nur die Wahrheit der «Gegenwissenschaft», die vom Mainstream unterdrückt werde.
Melchior Dönni, dessen Relief die heute gängigen Darstellungen der Flat-Earther vorwegnimmt, sieht das ganz anders. Der gläubige Katholik ist kein Verschwörungstheoretiker, sondern ein Freund der etablierten Wissenschaften, auch wenn er weder studiert noch das Gymnasium besucht hat: «Der Gelehrte weiss mehr als ein gewöhnlicher, ungelernter Erdenbürger», doziert er. Er zählt sich selbstverständlich zu den Gelehrten.
Zu seiner Weltanschauung sei er nach jahrelangem Forschen und Studieren naturwissenschaftlicher Bücher, Schriften und Karten gekommen, schreibt Dönni dem Amt in Bern. Das Meer habe eine waagrechte Fläche, die Erde sei grösser und der Sonne viel näher und diese viel kleiner «als bis dato angenommen», im Durchmesser nur 40 000 Kilometer. Die Sonne umkreise die Erde in 24 Stunden – «die Erde steht, die Sonne geht». Mit der Zeit werde die Erde an Wassermangel zugrunde gehen, führt Dönni weiter aus, «indem die Gletscher beständig schwinden und Meere und Seen ebenfalls». Dann werde wieder etwas Neues entstehen. Der Gletschergarten in Luzern beweise, dass die Erde früher grösstenteils mit Eis bedeckt gewesen sei.
Dönni schwingt sich gar zum modernen Wissenschaftstheoretiker auf. Der menschliche Geist forsche rastlos nach Licht und Wahrheit, immer weiter greife er aus: «So sind die grössten Wissenschaften errungen worden und manches fast Unglaubliche ist aus dunklem Grund ans Licht gekommen. Auch die Naturwissenschaft wird auf der gegenwärtigen Stufe nicht stehen bleiben und vielleicht schon in wenigen Jahren in ganz anderem Lichte zur Anschauung gelangen!» Zu Dönnis Anschauung natürlich, dass die Erde eine Scheibe sei.
Spärliche Spuren zur Biografie
Melchior Dönni hat seinem Paket nicht bloss sein Relief und einen Brief, sondern auch seine mit dem Copyright versehenen Broschüren beigelegt. Die unbeholfen formulierten Schriften sind weder in der Schweizerischen Nationalbibliothek noch im Staatsarchiv Luzern erhalten. Sie ruhen heute mit dem Erdrelief im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern. Diesem hat das Amt für Geistiges Eigentum Dönnis Paket schliesslich übergeben.
Im Luzerner Stadtarchiv finden sich nur spärliche Spuren zur Biografie des Autodidakten und Hobbywissenschafters. 1842 in Luzern geboren, besitzt Melchior Dönni an der Stadthofstrasse ein Haus, in dem vor allem Dienstbotinnen, Knechte und einfache Handwerker wohnen. Von deren Mietzinsen scheint Dönni zu leben, als Beruf gibt er den Behörden «Privat» an.
Mit seiner zweiten Frau Maria Josefa Dönni-Schriber, die zwanzig Jahre jünger ist als er, hat er acht Kinder. Alle ergreifen handwerkliche Berufe. Das jüngste Kind, Ludwig, kommt 1898 zur Welt. Der Name kündet von Dönnis Aspirationen nach höheren Weihen. Die Grossfamilie hindert ihn nicht daran, seinen Studien nachzugehen und an seinen Reliefs zu basteln.
Entdeckung des Südpols sollte Klarheit schaffen
Woher hat er seine Weltanschauung? Von alleine hat er sie kaum ausgeheckt, er muss einen Diskurs aufgegriffen haben. Namen und Quellen gibt er in seinen Broschüren keine an, Samuel Rowbothams englischsprachige Schriften dürfte er kaum gekannt, geschweige verstanden haben. Wahrscheinlich korrespondiert er mit Gleichgesinnten im deutschsprachigen Raum, die Rowbotham rezipieren. Das bedeutet, dass die Szene der Flacherdler um 1900 deutlich grösser, aktiver und vernetzter war, als man heute glaubt.
Nur so kann Dönni den Durchmesser der Sonne und ihre Distanz zur Erde berechnen und erläutern, dass das Auge die Menschen täusche: «Wäre die Sehkraft stark genug, so könnte man von der Spitze des Pilatus bis Paris, sogar über das Meer bis nach Amerika sehen, ohne dass die eingebildete Ründe der Erde oder des Meeres dies hindern könnte.» Sobald die Naturforscher bis zum Südpol vorgestossen seien, prophezeit Dönni 1902, werde man auf die unüberwindlichen Eismassen stossen, welche den Rand der Welt bildeten.
1911 war es so weit: Roald Amundsen erreichte den Südpol, kurz nachdem der Nordpol betreten worden war. Nun hätte Melchior Dönni seine Theorie revidieren müssen, doch er war schon seit fünf Jahren tot. Bereits 1903 war sein Patent gelöscht worden; vielleicht hatte ein Flacherdler der ersten Stunde gegen ihn geklagt. Dönni ging vergessen, das Relief aber hat seinen Erfinder überdauert.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»