Mittwoch, Oktober 2

An der Oberstufe Wädenswil müssen Schüler eigene Ziele formulieren. Zeugnisnoten gibt es weiterhin. Aber bei Prüfungen heisst es nur noch: Pink, Grün oder Orange.

Astrid Furrer macht sich Sorgen. Das, was die Sekundarschule Wädenswil nach den Sommerferien in allen Klassen praktizieren wird, werde zu einer Nivellierung nach unten führen: Farben statt Prüfungsnoten, von Pink über Grün bis zu Orange – je nachdem, ob ein Schüler sein eigenes Ziel übertroffen (Pink), dieses erreicht (Grün) oder verpasst hat (Orange). So werde vermieden, Klartext mit den Jugendlichen zu sprechen, sagt die FDP-Kantonsrätin.

Für Furrer ist klar: Schwächere Schüler werden geschont, da sie unter Umständen für eine knapp genügende Leistung mit Grün belohnt werden. Viele gute Schüler hingegen fühlen sich geschwächt, wenn sie nicht so gut abschneiden wie erwartet und dafür Orange bekommen. Das System in Wädenswil sei Ausdruck einer gleichmachenden Ideologie. «Die Schule will zwar für gleiche Chancen für alle Schüler sorgen», sagt die Kantonsrätin. «Aber es ist ein Trugschluss, dass man die unterschiedlichen Voraussetzungen der Jugendlichen aus der Welt schaffen könne, indem man Prüfungsnoten durch Farben ersetzt.»

Kuschelpädagogik?

Pointierter äussert sich Markus Somm, der selber in Wädenswil wohnt. Nachdem die «NZZ am Sonntag» im Frühling erstmals über die Wädenswiler Farbenskala berichtet hatte, schrieb der Publizist in seiner Kolumne in der «Sonntagszeitung»: «Eine Schule ohne Noten ist eine Welt, wo Mickey Mouse und Barbie zu Hause sind: ein Kinderzimmer in Pink, wo selbst die Katzen mit den Mäusen Lego spielen, ohne sie je hart anzufassen: Alle sind so lieb.»

Farben statt Noten = Kuschelpädagogik: Die Schlagworte der Debatte über das Wädenswiler Modell waren gesetzt. Die Sekundarschule steht seit Wochen im Fokus der Medien. Am Montag schrieben die Tamedia-Zeitungen erneut darüber, die «Zürichsee-Zeitung» widmete dem Thema gar die Titelseite. Anlass war eine Anfrage Furrers an den Regierungsrat. Doch die Exekutive mochte die verbreitete Empörung über das neue System in Wädenswil nicht teilen.

Die Regierung hält unter anderem fest: Das Farbenmodell ist rechtmässig. Denn: «Das von der Oberstufe Wädenswil verwendete System stellt keine Alternative zu Schulnoten im Zeugnis dar, sondern es ergänzt diese während des Semesters.» Mit anderen Worten: Zeugnisnoten gibt es an der Sekundarschule Wädenswil weiterhin, aber die Prüfungen werden mit Farben bewertet.

Was kann man sich konkret darunter vorstellen?

Vergleiche dich nicht

Christian Gut, der Co-Leiter der Oberstufenschule Wädenswil, erläutert die Ideen, die hinter der Farbenskala stehen. Das System soll Erfolgserlebnisse ermöglichen. Dazu sollen die Sekundarschüler lernen, ihre eigenen Ziele zu formulieren. Zu Semesterbeginn führen die Lehrer mit den Jugendlichen eine Art Coaching-Gespräch: In jedem Fach sollen die Schülerinnen und Schüler angeben, welche Note sie am Ende des Semesters im Zeugnis erzielen wollen. Die Lehrer überprüfen, ob diese Einschätzung realistisch ist. Gut sagt: «Die Jugendlichen sollen sich damit auseinandersetzen, was sie erreichen wollen und können.»

Der Schulleiter macht ein Beispiel: Eine Schülerin, deren Eltern nicht deutscher Muttersprache sind, möchte in Deutsch eine 4,5 erreichen. Grüne Prüfungsbögen und von ihr geschriebene Texte mit derselben Farbe signalisieren ihr, dass sie gut unterwegs ist. Gut ist überzeugt: «Das motiviert – auch, weil sie sich im Vergleich mit ihren Klassenkameraden nicht schlecht fühlen muss, da sie in einer Deutschprüfung ‹nur› eine 4,5 bekommen hat.»

Für ihn steht fest: So lernt die Schülerin, dass sie selber etwas bewirken kann in der Schule. Anstatt frustriert zu sein oder gar aufzugeben, weil die anderen in diesem Fach besser sind als sie, kann sie sich freuen, weil sie ihr eigenes Ziel erreicht hat. Bedenken, dass die Farbenskala schwächere Schüler dazu verleiten könnte, sich selber eine tiefe Zielnote auszugeben und dann in dem betreffenden Fach eine ruhige Kugel zu schieben, hält Gut für unbegründet. «Faul sein geht nicht. Deshalb sprechen unsere Lehrerinnen und Lehrer ja mit den Jugendlichen.»

Und was ist, wenn die Schüler ihre Semesterziele zu verpassen drohen, also lauter orange Prüfungsbogen zurückbekommen?

Dann stehen laut Gut weitere Gespräche mit den Jugendlichen an, in denen die Lehrpersonen die Problematik ansprechen und mit den Schülern schauen, ob die Lernstrategie geändert oder die Zielnote allenfalls nach unten korrigiert werden muss.

«Wir fördern unsere starken Schüler genauso wie die schwächeren»

Die Kritik, dass das Farbsystem die schwachen bevorzuge und die starken Schüler vernachlässige, kann Christian Gut nicht nachvollziehen. «Das ist komplett falsch. Wir fördern unsere starken Schüler genauso wie die schwächeren.» Gute Schüler etwa müssen in ihren Wochenplänen mehr leisten als andere. Und wenn Prüfungen orange ausfallen, gibt es genauso Gesprächsbedarf wie bei weniger guten Schülern, auch wenn die guten immer noch besser abschneiden sollten als die schwächeren Schüler.

Für die Lehrerinnen und Lehrer bedeutet all das mehr Aufwand als ohne Coaching und ohne Farben. Aber in Wädenswil ist man diese Feedback-Kultur bereits gewohnt. Die Sekundarschule setzt stark auf sogenannte Lernlandschaften: Einen Drittel ihrer Zeit arbeiten die Schülerinnen und Schüler individuell an Projekten oder bereiten sich für die nächsten Klausuren vor. In diesen Stunden finden auch die Einzelgespräche zwischen Schülern und Lehrerinnen statt.

Gut sagt: «Diese Kultur haben wir schon lange etabliert – schon lange vor dem Farbsystem bei Prüfungen.» Ob das Modell Schule machen wird, bleibt abzuwarten. Ob sich – wie von den Verantwortlichen in Wädenswil erhofft – die Schülerinnen und Schüler dadurch selber zu besseren Leistungen anspornen, ebenso. Das neue Regime am linken Zürichseeufer ist eine Premiere. Eine Erhebung über «Farben statt Noten» wurde bisher noch nicht durchgeführt, wie der Regierungsrat in seiner Antwort schreibt.

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