Dienstag, November 26

Nadja Radulowa hört Stimmen, Kalin Tersijski brüllt, Georgi Gospodinow legt einen schockierend aktuellen Roman über die Waffe Nostalgie vor, und die Geschichten von Sdrawka Ewtimowas klingen nach Slapstick, Western und Märchen. Die bulgarische Gegenwartsliteratur wird zu Unrecht übersehen.

Die Literatur Bulgariens ist hierzulande kaum sichtbar, und dies nicht erst seit gestern. 1929 klagte die «Slavische Rundschau»: «Aus keiner slavischen Sprache ist so wenig ins Deutsche übersetzt worden wie aus dem Bulgarischen.»

Christo Karastojanow (1950–2024) ist ein Urgestein der bulgarischen Gegenwartsliteratur. Er hat einen Roman über die letzten Jahre von Geo Milew verfasst, den wohl bekanntesten Glasauge-Träger Bulgariens. «Uns alle erwartet dieselbe Nacht» (2014) erzählt vom spurlosen Verschwinden des Dichters, Publizisten, Übersetzers und Anarchokommunisten.

Der Geo-Milew-Roman ist bis jetzt nur ins Englische übersetzt worden. Anders sein Vorgänger «Teufelszwirn» (auf Deutsch übersetzt von Andreas Tretner, Verlag Velbrück), benannt nach dem Schmarotzer, der Kleefelder und Kartoffeläcker aushungert. Die Romantrilogie schildert den Bürgerkrieg der 1920er Jahre als Wimmelbild der Bombenattentate, Morde und Putsche. «Gnadenlos heroisch und in alter Hajduckenmanier», schreibt Tretner im Vorwort, gingen alle über Leichenberge: der König, das Militär, die Kommunisten, die Anarchokommunisten, die annektionslüsternen Grossbulgaren und einige andere. Das Buch ist ein Zeit- und ein Schelmenroman voller Montagen und Simultaneitäten in der Provinz.

Das gegenseitige Abschlachten kulminiert – davon erzählt dann «Uns alle erwartet dieselbe Nacht» – in der Sprengung einer vollbesetzten Kirche 1925. Heute berichten die Touristenführer von den mehr als 200 Toten vor Sweta Nedelja im Zentrum von Sofia und ziehen dann weiter; der Wiederaufbau ist sehr schmucklos geraten.

Die Sprengladungen unter dem Dach explodierten während eines Trauergottesdienstes für einen General, der eigens ermordet worden war und als Köder für die Elite des Landes diente. Die Kommunisten verschickten zudem gefälschte Einladungen, damit ihnen niemand entgehe. König Boris I. fehlte jedoch. Er besuchte eine andere Trauerfeier: Ein Freund hatte sich bei einem der häufigen Attentate für ihn geopfert. Unmittelbar nach der Kirchensprengung wurden mehrere hundert Kommunisten, Anarchisten und sonstige Missliebige ohne Urteil teilweise auf offener Strasse exekutiert. Auch der Dichter, Publizist, Übersetzer und Anarchokommunist Geo Milew, der mit dem Glasauge, verschwand spurlos. Erst Jahrzehnte später fand man ihn dank dem Glasauge.

Lyrisches und Radikales

Wer sucht, der findet, auch Schönes von den Thrakern, den Griechen, den Römern. Im Zentrum von Sofia reiht sich Nadja Radulowa im «Brunnengedicht» ein in eine Schlange vor den Mineralwasserquellen, die schon die Antike entzückten. Autos fahren vor, Menschen füllen das dampfend hervorsprudelnde Nass in Kanister. Radulowa hört das «uralte tag und nacht ununterbrochene grummeln unter dei- / nen füssen» und imaginiert, wie das Wasser plötzlich «die zerbrechliche hülle der zivilisation sprengt und uns überflutet, und uns / wegspült mit allen unseren griechischen römischen thrakischen und allen mögli- / chen anderen wurzeln nach oben».

In «Kleine Welt, grosse Welt» (übersetzt von Henrike Schmidt, Eta-Verlag) fügt die 1975 geborene Dichterin und Übersetzerin Gespaltenes zusammen. In Sosopol am Schwarzen Meer, einem bulgarischen Sehnsuchtsort voller kleiner alter Holzhäuschen an der sonst oft geschmacklos verbauten Küste, geht sie einkaufen und steht im «Lidl, Sozopol», staunend nicht etwa vor Gurken und Zwiebeln, sondern vor thrakischem Schmuck: «Die Sonne in der Vitrine ist ein Terrorist- / Präparator und augenblicklich schneidet das Messer, die Ohrringe / erzittern voller Verlangen, / die Münzen erkaufen noch eine Minute / Leben. Nur die Tierknochen / ruhen friedlich in ihrer Zeit / vor der Auferstehung.»

Nadja Radulowa hört Stimmen, Kalin Tersijski brüllt. Seine Bücher – sieben Romane, siebzehn Erzählungs- und sechs Lyrikbände – sind radikal. Weil dem Psychiater das Arztgehalt zu mager war, begann er zu schreiben, anfangs für Zeitschriften, dann Drehbücher für eine Comedy-Show. Auf Deutsch liegen «Wahnsinn» und – gemeinsam mit der Drehbuchautorin Dejana Dragoewa – «Alkohol» vor (beide übersetzt von Dimitrova Popova, Ink Press), 2010 das bestverkaufte belletristische Buch in Bulgarien. Die Erzählungen «Gibt es jemanden, der dich liebt?» erhielten 2011 den Europäischen Literaturpreis.

Tersijskis Bücher sind voller Abschweifungen, Abbrüche und Neuanfänge. Manche Kapitel gleichen Erzählungen, philosophischen Kurzessays, Lexikoneinträgen und Stoffsammlungen. Grössere Erzählbogen, sagt Tersijski, lenkten ab «vom Leben».

In «Alkohol» verabscheut das Kind das freudlose Leben der Eltern und gelangt so «zur diffusen, aber immer stärker werdenden Überzeugung, dass ich Alkoholiker werden musste». Saufen gegen die Soz-Beamtenmentalität der Eltern. «Alkohol» ist kein politischer Roman, keiner über die Sucht und erst recht kein Protest. «Ich performe eine Autosektion», sagt Tersijski, «eine Selbstsektion, um mich zu heilen.»

Überragender Gospodinow

Ein Stalinscher «Chirurg der menschlichen Seele» will auch Georgi Gospodinow nicht sein. Aber er setzt auf Empathie durch eine Literatur, die mit allen, auch theoretischen Wassern gewaschen ist: Gospodinow erforscht an der Akademie der Künste in Sofia die Literatur. Literarisch-verspielt, naturwissenschaftlich-systematisch, theologisch-abgründig und nicht zuletzt autobiografisch-listenreich beugt er sich über letzte und vorletzte Fragen: Wie sieht eine Bibel für Fliegen aus, fragt sein «Natürlicher Roman» und ist um eine Antwort nicht verlegen. Der «berühmte Sohn der Stadt Jambol» (Gospodinow) bezeichnet sich als 68er – wegen seines Geburtsjahrs; eine Studentenrevolte gab es im Reich des ewigen KP-Chefs Todor Schiwkow natürlich nicht. Jambol liegt 80 Kilometer Richtung Schwarzes Meer entfernt von Stara Sagora.

Dort, diese Geschichte passt zu Gospodinow, liegt Geo Milews Glasauge in einem Museum. Dem bulgarischen Klassiker der Moderne hatte ein englisches Schrapnell im Ersten Weltkrieg einen Teil des Kopfes und ein Auge weggesprengt. Milew wurde in Berlin zehnmal operiert, erhielt ein Glasauge und warf sich in die brodelnde Nachkriegsmetropole, arbeitete auch mit bei Franz Pfemferts expressionistischer Zeitschrift «Die Aktion». Dann kehrte Milew in ein brodelndes Bulgarien zurück.

Nach der Sprengung der Sweta Nedelja 1925 mussten die Häscher des Königs nicht lange nach dem Dichter und Anarchokommunisten suchen: Milew wurde kurz danach wegen seines Gedichts «September» zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Er verschwand spurlos. Als 1954 einigen Schergen der Prozess gemacht wurde, verriet einer die Lage eines Massengrabs nahe Sofia. Die Identifizierung der meisten Leichen misslang. Doch in einem Schädel, unter Hundeknochen versteckt, steckte ein Glasauge. An ihm war der Dichter zu erkennen. Ein ruhiger, ja bürgerlich wirkender Stadtteil der bulgarischen Hauptstadt ist heute nach dem modernen Klassiker benannt.

Das Buch der Stunde

Georgi Gospodinow trat in seinen Büchern oft ein für die im Sozialismus zensierte und nach 1989 verschwiegene Vergangenheit. In seinem Roman «Zeitzuflucht» (übersetzt von Alexander Sitzmann, Aufbau-Verlag) mutiert die Vergangenheit in den Händen von Populisten jedoch zu einem «diskreten Ungeheuer». «Als ich jünger war», sagt der Autor, «haben sie uns eine schöne Zukunft versprochen. Nun versprechen sie uns eine schönere Vergangenheit. Alles Fake.»

In «Zeitzuflucht» erfreuen sich Zimmer für Alzheimerkranke im Stil früherer Jahrzehnte grossen Zuspruchs, insbesondere bei gesunden Menschen. Daher baut ihr Erfinder Gaustin Vergangenheitskliniken. Der Erfolg lässt nicht nach, aber bevor Gaustin nun Vergangenheitsstädte erbauen kann, wollen die Staaten Europas in Gänze zurückkehren in die Vergangenheit. In nationalen Referenden sollen die Bürger ein Jahrzehnt wählen. In Bulgarien versammeln sich die Kommunisten vor dem eilig wiedererrichteten Mausoleum des KP-Vorsitzenden Georgi Dimitrow, der sich der Menge dank einem Lift als leutselig winkender Leichnam präsentiert.

Selige Schauer verspürt auch die Konkurrenz: Die Grossbulgaren begeistert eine über ihnen schwebende fussballfeldgrosse Nationalflagge, weshalb einige von ihnen Salven aus den Repetierbüchsen abfeuern und Drohnen treffen, die die Fahne halten. Die Drohnen stürzen zu Boden, die Fahne folgt ihnen und verpackt die Menge wie «von Christo (. . .), gegen den die Recken sonst murrten». Der Geist der Geschichtsklitterung aber ist aus der Flasche. Bald werden die Truppen für das grosse Reenactment von 1939 an der Grenze von Deutschland und Polen zusammengezogen . . .

Als «Zeitzuflucht» zwei Jahre nach der Originalausgabe 2020 auf Deutsch erschien, hatte Russland gerade die Ukraine überfallen. Der Roman war das Buch der Stunde. Die Übersetzung ins Englische wurde 2023 als erstes bulgarisches Buch überhaupt mit dem International Booker Prize ausgezeichnet.

Der angesehene Preis wird der bulgarischen Literatur mehr Aufmerksamkeit verschaffen. Inzwischen fördert auch Bulgarien Übersetzungen, verlangt von ausländischen Verlagen keine bulgarische Steuernummer mehr, und die Antragsformulare liegen nicht mehr nur in kyrillischer Schrift vor.

Noch immer vernachlässigt werde die Bulgaristik, das Studienfach künftiger Übersetzer, meint die 1975 geborene Schriftstellerin und Übersetzerin Elena Alexiewa. Von ihren mehr als zehn Gedichtbänden, Theaterstücken, Erzählungen und Romanen sind auf Deutsch nur zwei Geschichten zu lesen. Zuletzt hat sie sich den «absurden und brutalen» Zügen der in Bulgarien «offener als im Westen» zutage tretenden menschlichen Natur zugewandt.

Zwei kräftige Balkan-Subjekte, Koki und Dunju, spazieren durch ihren 500-seitigen Roman «Vulkan». «Sie unterscheiden nicht zwischen Gut und Böse, sie akzeptieren einfach beides und sagen sich: Warum soll ich es mir schwer machen?» Ja, warum? Die netten Kapitalisten der ersten Stunde wollen nur das Beste, jedenfalls für sich, da müssen die Mittel nicht auch noch die besten sein. Die bulgarischen Oligarchen leben, und man kann über sie lachen. Obwohl Alek Popow, der Meister deftiger Grotesken über den Sozialismus («Schneeweisschen und Partisanenrot»), in diesem Jahr überraschend verstorben ist.

Frauen lassen sich ein

Oligarchen gibt es auch in Sdrawka Ewtimowas Erzählungsband «Maulwurfsblut» (übersetzt von Andreas Tretner, Elvira Bormann-Nassonowa und Alexander Sitzmann, Eta-Verlag). Bei ihr stehen allerdings die Frauen im Mittelpunkt. Maria etwa, die junge Angestellte mit den dünnen nackten Beinen, die aus der kurzen Hose hervorstechen «wie in die Schuhe geschlagene Nägel».

Seit ein Arbeiter, den sie wohlgefällig betrachtet hatte, gefeuert wurde, stopft sie sich voll mit allem, was sie kriegen kann, Sauerampfer, Erdbeeren, Kirschen, rund um die Uhr. Teo, dem das halbe Städtchen gehört und seiner Meinung nach alles, was in ihm lebt, sieht ihr staunend zu. Sie übersieht ihn beharrlich, lässt sich aber ins Restaurant einladen, wie jede Frau, die Teo schon hatte. Dort grast sie die ganze Speisekarte ab, um Teo dann seelenruhig ins Schlafzimmer zu folgen und es genauso gleichmütig wieder zu verlassen. Nach der zweiten, für Teo ebenso denkwürdigen Nacht ist sie allerdings wie vom Erdboden verschwunden – und hat ihm den Hunger hinterlassen.

«Erzählungen aus Pernik», dem heruntergekommenen Zentrum der sozialistischen Schwerindustrie, heisst einer von Ewtimowas acht Geschichtenbänden, ausserdem sind sechs Romane erschienen. Ewtimowa schreibt neben ihrer Arbeit als Übersetzerin und Redakteurin im Verteidigungsministerium unablässig: «Es ist wie Ketterauchen. Wenn du schreibst, kann dich keiner in die Ecke drängen.»

Ewtimowas Protagonistinnen wehren sich gegen die Verhältnisse mit Sarkasmus und Ironie. Die Geschichten klingen nach Slapstick, Western, Märchen und Mythos. Viele Männer arbeiten im Ausland, ihre Ermahnungen verklingen in den Kulissen des Patriarchats: Lass dich nur mit niemandem ein, warte auf mich, halte das Haus sauber.

Die Frauen halten sich nicht ganz daran: Die attraktive Cafébesitzerin geniesst wechselnde Partner; eine Ehefrau, deren Mann im Ausland mit einer Geliebten lebt, verscherbelt die gesamte Einrichtung der gemeinsamen Wohnung einschliesslich des Badewannenstöpsels und hinterlässt ihm inmitten gähnender Leere Säcke voller Verkaufsquittungen. Und eine Professorin verschafft ihrem Sohn eine ihr genehme Ehefrau, indem sie der geschätzten jungen Philologin eine seltene Klassikerausgabe als Mitgift verspricht.

Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner. Kein ganz neues Empowerment-Motto, aber ein alternativloses. Vermutlich müssen es sich auch die bulgarischen Autorinnen und Autoren zu Herzen nehmen, um ihre Leser auch hierzulande zu finden.

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