Freitag, November 29

Die Berner können beim Jubiläums-Schwingfest gleich zwei Gewinner bejubeln. Dass einer von ihnen Fabian Staudenmann heisst, durfte erwartet werden. Aber Fabio Hiltbrunner hatte niemand auf der Rechnung. Wer ist der 19-Jährige mit dem bleichen Gesicht?

Begonnen hatte das Fest zum 125-Jahr-Jubiläum des Eidgenössischen Schwingerverbands (ESV) mit einer Sonntagspredigt. Von der Kanzel in der Arena in Appenzell richtete der mächtigste ESV-Funktionär in sportlichen Belangen, Stefan Strebel, eindringliche Worte an seine Schäfchen: Wenn ein Schwinger einen Kampf gewinne, habe er nicht zuerst zu jubeln, sondern dem Verlierer den Rücken zu putzen, die Hand zu geben und ihm in die Augen zu schauen. Und diese Demut erwarte er von den Zuschauern ebenso.

Strebels Appell liegt begründet in Vorkommnissen, die eingefleischte Schwingfans in dieser Saison verärgert haben. Es gab zum Beispiel Schwinger, die abschätzige Gesten machten, wenn sie mit einem Kampfrichter-Urteil nicht einverstanden waren. Und an gewissen Orten ertönten von den Tribünen Pfiffe oder Schmähungen gegen Böse, die nicht in der Gunst des Publikums standen.

Sogar der Schwingerkönig beklagte sich über respektloses Verhalten: Der Innerschweizer Joel Wicki hat vorderhand keine Lust mehr, als Gast im Kanton Bern zu schwingen, nachdem er dort offenbar beleidigt worden ist. Und so verlas Stefan Strebel ein Plädoyer, mit dem er jedem Pfarrer das Weihwasser hätte reichen können. In seinem bürgerlichen Beruf ist er CEO.

Der Schwingerkönig Wicki enttäuscht – die Entwicklung des Topfavoriten Staudenmann verblüfft

Zunächst schien es jedoch, als seien ein paar Schwinger während seiner Predigt fast eingeschlafen. Denn viele von ihnen kamen nur schwerlich in die Gänge, speziell die erfolgsverwöhnten Berner. Es gab eine Vielzahl von lahmen Unentschieden, auch zwischen prominenten Athleten. Und wenn es einmal ein spektakuläres Duell gab, überraschten die Kampfrichter auch hochdekorierte TV-Experten mit einem eigenartigen Massstab bei der Notengebung. Nicht jeder Schwinger konnte seinen Ärger darüber verbergen, wie es in Strebels Sinn gewesen wäre, die meisten rissen sich aber zusammen.

Und dann wurde das Geschehen komplett auf den Kopf gestellt. Die Berner schwangen sich urplötzlich in einen Rausch, ihr berüchtigtes Teamwork funktionierte – und alsbald waren sie nicht mehr zu stoppen. Ja, am Ende sorgte gar einer von ihnen für eine Sensation, wie es sie an einem Schwingfest mit eidgenössischem Charakter kaum je gegeben hat. Sein Name: Fabio Hiltbrunner. Er hat noch nie ein Kranzfest gewonnen und war als krasser Aussenseiter nach Appenzell gereist. Im Berner Verband war der Mann mit dem bleichen Gesicht und Schuhgrösse 51 bis vor kurzem alles andere als ein Leader, eher eine Art Ministrant. Der Athlet des Emmentaler Schwingklubs Sumiswald, ein Landwirt in Ausbildung, hat erst kürzlich seinen 19. Geburtstag gefeiert.

Nun, in Appenzell, bodigte Hiltbrunner in seinem letzten Kampf den Schwingerkönig Wicki und stand damit schon vor dem Schlussgang als Festsieger fest. Er wusste vor dem Mikrofon gar nicht, was er zu seinem Exploit sagen soll. Hätte der Schlussgang anschliessend gestellt geendet, wäre er gar allein in die Gewinnerliste eingegangen. Doch weil im grossen Finale bei sintflutartigen Regenfällen auch der hochgehandelte Fabian Staudenmann triumphierte, hatten die Berner auf dem Territorium ihrer Nordostschweizer Rivalen gleich zwei Festsieger zu bejubeln. Staudenmann hatte im Schlussgang Armon Orlik bezwungen, den in religiösem Hause aufgewachsenen Bündner, der einmal mehr einen eidgenössischen Titel knapp verpasste.

Der enttäuschende Schwingerkönig Wicki, der in diesem Jahr viele Wochen auf der Alp gearbeitet hatte, meinte während des Fests, wer in Appenzell gewinne, werde auch in einem Jahr am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest in Mollis ein Topfavorit sein. Nun kann man sich fast nicht vorstellen, dass diese Rolle auf Hiltbrunner zutreffen wird – sehr wohl aber auf Fabian Staudenmann. Er hat einmal mehr bekräftigt, weshalb etliche Experten in ihm den nächsten Berner Schwingerkönig sehen. Im Gegensatz zu den anderen ganz Bösen ist er variabler und konstanter. Und er hat in dieser Saison bewiesen, dass er in elektrisierenden Duellen mit Samuel Giger, einem anderen Anwärter auf den Königstitel, bestehen kann.

Wer Staudenmann, diesen Giel aus Guggisberg (wo das Vreneli aus dem populären Volkslied herkommt), früher kannte, muss erstaunt sein über seine Entwicklung. Er galt in der Jugend als etwas pummelig, wuchs auch in einem Restaurant auf. Doch dann entdeckte er die Trainings bei einem Ironman-Triathleten – und eignete sich einen derart grossen Ehrgeiz an, dass er zu Gunsten einer Schwingfest-Vorbereitung sogar seine Konfirmationsfeier frühzeitig verliess. Von seiner Urgrossmutter erhielt er später für jeden Kranz einen Fünfliber.

Zuletzt liess sich Staudenmann im Training von den Königen Matthias Glarner und Kilian Wenger inspirieren. Und er ist zu einer starken Persönlichkeit mit weitem geistigen Horizont gereift, der sich auch traut, gegen eine Obrigkeit Missstände in seiner Sportart anzusprechen. Er monierte in einem Brief, dass die Platzverhältnisse am Brünig-Schwinget zu beengt seien und dass den Schwingern dort zu wenig Wertschätzung entgegengebracht werde – ihm wurde durchaus beigepflichtet.

Und nach einer Weiterbildung hat Staudenmann ein Mathematik-Studium begonnen. Er sagte einmal, auf diesem Fachgebiet gebe es nur richtig oder falsch, nix dazwischen, das gefalle ihm. Zwar musste er zugeben, dass er sich etwas viel aufgebürdet habe, doch offensichtlich zog Staudenmann unterdessen die richtigen Schlüsse.

Speakerin warnt Wildpinkler vor büssenden Polizisten

Und wie viel hat die Predigt genützt, die der ESV-Funktionär Strebel am Morgen gehalten hatte? Die Bilanz fällt durchzogen aus. Die Speakerin musste doch die eine oder andere Ermahnung aussprechen. Die Wildpinkler unter den Zuschauern warnte sie, dass die Polizei auf der Pirsch sei und Bussen verteile.

Die Schwinger erhielten am Schluss als Gabe einen handgefertigten Appenzeller Gurt, auf dem ein Emblem zeigt, wie sich zwei Kämpfer symbolisch die Hand reichen. Der Sensationsmann Hiltbrunner durfte sich neben dem Gurt und einem Rind auch noch über einen Brunnen freuen. Dieser war der Schönschwingerpreis für jenen, der am attraktivsten gekämpft hatte. Diesen 8. September 2024 wird Hiltbrunner nicht so schnell vergessen.

Exit mobile version