Sonntag, September 29

In der UdSSR war das grösste Verbrechen des Holocaust kein Thema – die Ermordung von 33 000 Juden passte weder ins heroische Sieges- noch ins Klassenkampf-Narrativ. Eine Ukrainerin will mit Empathie und Einbildungskraft den Opfern Name und Stimme zurückgeben.

Der am 29. und 30. September 1941 von Sonderkommandos der deutschen Sicherheitspolizei, von Wehrmachtssoldaten und einheimischen Milizionären verübte Mord an 33 000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern, die nach Babin Jar (russisch Babi Jar), einer Schlucht bei Kiew, getrieben und dort erschossen wurden, ist das grösste Einzelmassaker des Holocaust.

In der Sowjetunion wurde lange darüber geschwiegen. Das Schwarzbuch von Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman, die das Verbrechen 1945 dokumentierten, konnte nicht erscheinen. Erst in der Tauwetterperiode machten Autoren darauf aufmerksam, so Jewgeni Jewtuschenko mit seinem berühmt gewordenen Gedicht «Babij Jar», das Dmitri Schostakowitsch als Grundlage für seine 1962 uraufgeführte 13. Sinfonie diente und das Paul Celan ins Deutsche übersetzte.

Zur Errichtung eines Denkmals, wie es Jewtuschenko anmahnte, kam es erst 1976. Doch die Inschrift war allgemeiner gehalten, ohne Nennung der Herkunft der Opfer: «Hier wurden in den Jahren 1941 bis 1945 über hunderttausend Kiewer Bürger und Kriegsgefangene von den deutsch-faschistischen Besatzern ermordet.» Vom Massaker an den Juden ist explizit nicht die Rede.

Gewagtes Unterfangen

Das änderte sich mit der Unabhängigkeit der Ukraine, die eine andere Erinnerungspolitik einführte und das Schicksal der jüdischen Bevölkerung genauer in den Blick nahm. Bereits 1991 wurde das jüdische Denkmal «Menora» im Park Babin Jar errichtet, ihm folgten weitere Denkmale. Zu den jüngsten Auseinandersetzungen mit dem Thema gehört der Film «Babyn Jar. Kontext» (2021) des ukrainischen Filmregisseurs Sergei Losniza.

Für Marianna Kijanowska, aufgewachsen in der Kleinstadt Schowkwa, deren jüdische Einwohner fast zur Gänze während des Holocaust umkamen, geht es darum, den jüdischen Opfern von Babin Jar Name und Stimme zu geben. Ihr 2017 auf Ukrainisch und jetzt auf Deutsch erschienener Zyklus von 67 Gedichten trägt denn auch den Untertitel «Stimmen».

Doch entfaltet sich diese Dichtung, wie die Übersetzerin Claudia Dathe in ihrem informativen Nachwort schreibt, «jenseits von Dokumentation und Zeugenschaft; es sind fiktive Stimmen, die sich zu einem Mosaik beispielhafter Einzelschicksale zusammenfügen und das politisch verordnete, lange Zeit weitestgehend unhinterfragte Schweigen aufbrechen». Ein gewagtes Unterfangen. Dass es gelungen ist und einen tiefen Eindruck hinterlässt, verdankt sich Kijanowskas Empathie, Einbildungskraft und Sprache.

Mit grossem Einfühlungsvermögen und Sinn für Details imaginiert sie die letzten Wochen oder Stunden von Menschen, die wissen, was auf sie zukommt. Diese Rifkas, Schljomas, Elitschkas, mit Bündeln in den Händen oder ohne, stehen in Erschiessungskolonnen, oder sie müssen, von der «polizaj» und der Waffen-SS angetrieben, ihre eigenen Gräber schaufeln. Szenen der Angst und hellsichtigen Todesmuts, während der Abstand zwischen «fatum und fortune» lächerlich wird.

Jemand bittet: «um zu bezeugen muss ich heil bleiben verzeiht mir ihr leute», eine Frau beklagt in litaneienhaftem Ton den Tod ihres Mannes. Der Chor der Stimmen umfasst Kinder und Alte, Mütter und Jugendliche, selbst einen Mann, der die Hungersnot von 1933 und das Terrorjahr 1937 erlebt und sich als Spitzel zur Verfügung gestellt hat; ihm ist es egal, ob er nach Sibirien kommt oder umgebracht wird: «ich denke schlimmer kann es nicht werden / alles schlimme habe ich schon hinter mir».

Kleine Gesten

Dem Pathos des Grauens stellt Kijanowska kleine Gesten gegenüber wie eine Frau, die Fotos ihrer Brüder beschriftet, Tagebücher, Briefe und Handarbeiten in eine Schachtel legt, obwohl tagtägliche Razzien ihr die Sinnlosigkeit solchen Tuns vor Augen führen: «ich sammle objekte mein gott erinnerung ist ein wunder / alles was ich habe die familie alle wurden getötet in der schlucht».

Wer spricht, tut es in stockenden, fragmentierten Sätzen (auf Satzzeichen wird von der Autorin verzichtet), das Gesagte bricht sich Bahn und verschafft sich durch Wiederholungen Nachdruck. So auch im Bekenntnis einer Person, die – eine Ausnahme im Zyklus – den Holocaust überlebt hat und post festum Zeugnis ablegt: «erst jetzt kann ich darüber sprechen», wiederholt sie ein übers andere Mal. Es klingt wie ein Mantra.

Auch Marianna Kijanowska hat es bei diesem Band nicht belassen. Er ist der erste einer Trilogie, deren zweiter Band, «Der Blitz begegnet Wind und Wasser» (2023), vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine handelt. Der dritte Band soll die zersetzende Wirkung des Krieges auf alle Lebensbereiche thematisieren. Man darf gespannt sein. Mit ihrer eindrücklichen Stimmenpartitur «Babyn Jar» hat Kijanowska jedenfalls gezeigt, dass Poesie ihren Teil zur unabdingbaren Erinnerungskultur beitragen kann. Auf eine unverwechselbare Art.

Marianna Kijanowska: Babyn Jar. Stimmen. Gedichte ukrainisch und deutsch. Aus dem Ukrainischen und mit einem Nachwort von Claudia Dathe. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 155 S., Fr. 36.90.

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