Rodion ist wütend, weil er sein Georgsband nicht tragen darf. Tatjana will nicht vergessen. Und Wladimir findet das alles einfach nur zum Fremdschämen. Ein Besuch in der russischen Hochburg Estlands

Der russische Nationalismus klingt ohrenbetäubend. Ein unaufhörliches Knattern von Maschinengewehren hallt über den Fluss und prallt von den Mauern der Festung ab. Tack-tack-tack-tack. Immer und immer wieder. Stundenlang. Iwangorod feiert am 9. Mai den Tag des Sieges, auf der estnischen Seite der Grenze in Narwa wähnt man sich auf einem Schlachtfeld. Die Russen haben an ihrem Ufer Lautsprecher, Bildschirme und eine Bühne aufgestellt und die Lautstärke voll aufgedreht. Die Waffen der Soldaten auf den Bildschirmen zeigen in eine Richtung: nach Estland.

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Walentina und 3000 anderen Personen gefällt das. Die 77-Jährige steht am estnischen Ufer und posiert vor der Drohkulisse für ein Foto. Sie sagt: «Es geht heute darum, Stärke und Verbundenheit zu zelebrieren.» Die Seniorin wäre gerne nach Russland zu ihren Kindern gereist, doch die Pläne sind an einem fehlenden Visum gescheitert. Jetzt muss sie sich damit zufriedengeben, was sie aus sicherer Entfernung von den Feierlichkeiten mitbekommt. Und das ist nicht wenig – dafür hat der Kreml gesorgt.

Es ist der 80. Jahrestag des sowjetischen Sieges über Nazi-Deutschland. Für Putin aber geht der Krieg weiter. Der Slogan «Eine Nation, ein Sieg: 1945 bis 2025» flimmert immer wieder über die Bildschirme. Auch in der Ukraine seien Nazis, auch heute sei Russland der Befreier, so lautet die Erzählung.

Manche wollen nur gedenken

Nur wenige Meter von Walentina entfernt steht die 66-jährige Tatjana Faruschkina. In der Hand hält sie ein europäisches Fähnchen und ein Windrad. Der 9. Mai ist nicht nur der Tag des Sieges, sondern auch der Europatag. Faruschkina möchte gedenken – und gleichzeitig ein Zeichen setzen. «Dieser Tag sollte überall gefeiert werden – die Soldaten der Roten Armee haben schliesslich auch Estland verteidigt», sagt sie. Die Geschichte dürfe man nicht einfach vergessen.

Faruschkina lebt seit 1962 in Narwa. Als ihre Familie vom Grossraum Moskau nach Estland zog, war sie fünf Jahre alt. «Estland ist meine Heimat, meine Kinder sind Esten», sagt sie. Faruschkina selbst ist staatenlos. Als Estland 1991 unabhängig wurde, erhielten nur jene Personen die estnische Staatsbürgerschaft, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg familiäre Beziehungen im Land gehabt hatten. Den anderen gab die Regierung in Tallinn einen sogenannten grauen Pass, den Ausweis der Staatenlosen.

Sie wurden zu Bürgern zweiter Klasse: Sie dürfen sich in Estland aufhalten, an den Kommunalwahlen teilnehmen und haben Anspruch auf Sozialleistungen. Von den nationalen Parlamentswahlen, staatlichen Ämtern und dem Militärdienst sind die Staatenlosen ausgeschlossen. «Ich habe die Unabhängigkeit immer befürwortet und lange auf die estnische Staatsbürgerschaft gehofft», sagt Faruschkina. Vergeblich. Um diese zu erhalten, müsste sie einen Sprachtest bestehen. Doch Faruschkina spricht bis heute kein Estnisch. Groll verspüre sie nicht. «Ich habe mich damit abgefunden, dass ich niemand bin.»

Über Russlands Angriff auf die Ukraine möchte sie nicht sprechen. «Ich bin radikal dagegen, was sonst gibt es da zu sagen?» Doch etwas bereitet ihr grosse Sorgen. Ende April wurde bekannt, dass die estnischen Streitkräfte in Narwa einen Stützpunkt für mehrere hundert Soldaten einrichten werden. Faruschkina fürchtet eine Eskalation. «Wir lebten einst friedlich nebeneinander, jetzt provoziert Estland einen Krieg.»

Estland hat die Regeln verschärft

Der ohrenbetäubende Lärm ist für einen Moment verstummt. Dann brüllt ein Mann am anderen Ufer ins Mikrofon: «Freunde in Iwangorod und Narwa, könnt ihr mich hören?» Vor einem Jahr hatte die Menge an dieser Stelle noch geklatscht und gejubelt. Diesmal bleibt es still. Estland hat die Gesetze verschärft. Der 9. Mai darf als Gedenktag gefeiert werden, jegliche Sympathiebekundungen mit dem Aggressor sind jedoch untersagt.

Zahlreiche Polizisten und Soldaten patrouillieren an der Uferpromenade und beim Denkmal. Sie halten Ausschau nach verbotenen Symbolen wie dem Georgsband oder der russischen Flagge. Auffällig viele Männer tragen an diesem Tag Kleider der Marke Tommy Hilfiger – ob ihnen das Design gefällt oder die Farben, ist unklar. Ahnden lässt sich das kaum. Der Polizist Ilja Tsiz beobachtet die Menge aus einiger Distanz, intervenieren musste er bisher noch nicht. Er sagt: «Estland ist ein freies Land, wir werden den Menschen nicht verbieten, hier zu stehen, solange sie sich an die Gesetze halten.»

Für Rodion ist Estland ein Polizeistaat. Am Morgen war er beim Denkmal gewesen und hatte dort Blumen niedergelegt als Andenken an den Sieg seiner Vorväter. Die Polizei hat die Strasse zum Denkmal für den Autoverkehr abgesperrt, Rodion hatte trotzdem dort parkiert und eine Busse kassiert. Der 64-Jährige ist sich sicher, dass die temporäre Verkehrsregelung politisch motiviert sei. Er sieht seine Rechte beschnitten: «Ich möchte die Nationalhymne singen und das Georgsband tragen, aber alles wurde verboten.»

Seinen vollen Namen möchte Rodion nicht nennen und sein Bild nicht in der Zeitung sehen. Er fürchtet Konsequenzen. Die Russophobie in Estland sei in den letzten Jahren immer schlimmer geworden, sagt er. Er hat Angst vor einer Abschiebung – aber wäre es wirklich so schlimm, in das Land zu müssen, das er so sehr bewundert? «Meine Frau ist halb Estin, unsere Kinder leben hier. Ich habe nicht vor, das alles aufzugeben.»

Ein Generationengraben entzweit die Minderheit

Der Krieg in der Ukraine hat die russische Minderheit in Estland entzweit. Laut einer im Auftrag der Regierung durchgeführten Umfrage sind 66 Prozent der 18- bis 24-Jährigen gegen den Krieg. Bei den 65- bis 74-Jährigen sind es nur 30 Prozent. Der Generationengraben ist in Narwa deutlich spürbar. Mit wenigen Ausnahmen sind es vor allem ältere Damen und Herren, die den Reden und Konzerten aus Russland lauschen.

Die Studentinnen Darja Bulawkina und Aljona Laanemann sind aus Tartu und Tallinn in ihre Heimatstadt gereist, um den Europatag zu feiern. Nur wenige hundert Meter vom Flussufer entfernt findet eine Gegenveranstaltung zum Tag des Sieges statt. Zu sehen, wie viele Menschen der russischen Propaganda-Show beiwohnten, sei «komisch und traurig», sagt Laanemann. «Erinnern ist in Ordnung, aber nicht so», findet Bulawkina.

Auf der Suche nach einem besseren Leben ziehen immer mehr junge Menschen weg aus Narwa. Doch studieren kann in Estland nur, wer die Landessprache beherrscht. Gerade in Narwa, wo 97 Prozent der Bevölkerung russisch als Muttersprache spricht, haben selbst viele Junge Mühe mit Estnisch. Um die Chancengleichheit zu verbessern, hat Estland im letzten Herbst damit begonnen, das parallele russische Bildungssystem abzuschaffen. Die Reform ist umstritten, doch Laanemann und Bulawkina halten sie für richtig.

Obwohl sie Narwa hinter sich lassen konnten, ist für beide Frauen klar, dass sie irgendwann in ihre Heimatstadt zurückkehren wollen. «Wir wollen etwas zurückgeben und die Stadt weiterentwickeln», sagt Laanemann.

Wladimir Kaschtan ist in der Menge nicht zu übersehen. Er hat schwarz tätowierte Augäpfel, trägt Kosakenhut und rot-schwarz karierte Hosen. Der Tag des Sieges hat ihn auf die Strasse gebracht – aber nach feiern ist ihm nicht. «Die meisten meiner Vorväter wurden umgebracht, bevor sie im Zweiten Weltkrieg kämpfen konnten – weil sie Deutsche waren oder Kosaken oder weil sie Land besassen.» In der heutigen Zeit sei die Veranstaltung einfach nur «cringe» – zum Fremdschämen.

Kaschtan ist in Narwa so etwas wie ein Stadtoriginal. Man kennt ihn – und hasst ihn. Immer wieder sei er mit dem Tod bedroht und angegriffen worden. «Ich bin offen homosexuell und offen gegen Putin – das perfekte Feindbild für die ‹konservative Konserve›, wie ich Narwa nenne.»

Mit seinem Velo kurvt er durch die Menge und platziert in der Stadt kleine, bunte Plastikfiguren. Die «Wartenden», wie er sie getauft hat, seien ein Symbol für die Menschen in Narwa. «Wir alle warten doch auf etwas – auf das Ende des Krieges, oder darauf, von Putin erobert zu werden. Vor allem aber auf Frieden.»

Es ist vielleicht das Einzige, was die Menschen hier trotz aller Unterschiede eint.

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